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Im Gespräch mit Irene Ferchl, Februar 2010

 

Was hat Sie als Anglist und als Schriftsteller an dieser späten und schwer auf die Bühne zu bringenden Tragödie von William Shakespeare, dem „King Lear“ interessiert?

 

Es war das Thema des Scheiterns von Heldenfiguren, der tragischen Fallhöhe, darum geht es im „Lear“ in extremem Maß, der Fall des Königs vom Status eines allmächtigen Monarchen ins Bodenlose. Wenn man sich Inszenierungen in England ansieht, dann gehen die Untertanen zu Beginn des Dramas nicht nur auf die Knie, sondern legen sich sogar auf den Boden, um die Königsmacht Lears durch Gesten völliger Unterwerfung zu bedeuten. Innerhalb weniger Akte wird dann dieser Monarch all seiner Würden entkleidet, nicht nur metaphorisch, sondern buchstäblich, er tritt auf der Heide völlig nackt auf und sagt, der Mensch sei eigentlich nicht mehr als ein armes nacktes, unbehaustes, armseliges Tier.

 

Nun ist Ihr „Professor Lear“ kein Monarch, sondern ein weltberühmter Philosoph, ein Geistesriese, wie es über ihn heißt, was auch schon sein Name, Professor Eiger – die Eiger Nordwand unter den Denkern – ausdrückt. Welche Elemente aus Shakespeares „Lear“ sind, außer dem Gedanken der Fallhöhe, in Ihr Stück eingeflossen?

 

Es ist eine Adaptation der Tragödie, wie es Hunderte von Adaptationen von Shakespeare-Stücken gibt, auch unzählige von seinem „Lear“. Als Motto steht ein Zitat über meinem Stück: „I fear, I’m not in my perfect mind“, übersetzt etwa „Ich fürchte, ich bin nicht ganz bei Verstand“, und ich habe einige Motive übernommen. Zum Beispiel das Motiv des Ruhestands, in den ein König eigentlich nicht gehen kann, es will aber Land und Ämter abgeben. Das zweite Motiv ist die Entkleidung des wahnsinnigen Lear: Mein Professor Eiger steht am Schluss ganz nackt, ohne Kleider da. Entkleidet sind sie auch ihrer Statussymbole, bei Shakespeares Lear sind es die Ritter, bei mir die fünf Hilfswissenschaftler, die Professor Eiger genommen werden, das ist fast ein wörtliches Zitat. Dann der Zorn: Lear ist ein Sklave seiner Wut und Eiger ist ein Choleriker. Und es gibt natürlich die Figur der Cordelie, bei mir ist es die Enkelin, bei Shakespeare die jüngste Tochter. Eine Rolle spielt auch das Sehen, beziehungsweise das nicht Sehen – Eiger trägt eine Augenklappe – das Interesse, die Freude an den Blumen, da gibt es wörtliche Zitate über die Kuckucksblumen, mit denen sich Lear und Eiger umgeben, dann das Interesse für die Kindheit, bei Shakespeare ist das Alter „the second childhood“, die zweite Kindheit …

 

Deren sich Professor Eiger gegenüber wieder Cordelie erinnern kann … Was Sie zusätzlich erfunden und gefunden haben, ist das Motiv der Sprache, der Wörter, das für Eiger und seine Frau ja zentral ist. Der Professor verliert sein Sprach- und Denkvermögen, was hat Sie an diesem Aspekt gereizt?

 

Lear verliert seine politische Macht als Monarch, der Philosoph die Sprache – als Schriftsteller kann man alle Register beim Thema Sprachverfall ziehen, das hat mir beim Schreiben unheimlich viel Spaß gemacht. Denn sprachlicher Verfall zeigt sich ja in sprachlichen Fehlleistungen, und wenn man diese literarisch simuliert, hat man Spielräume für etwas Absurdes, Groteskes, Außergewöhnliches: Aus feststehenden Begriffen kann man Neues schaffen, zum Beispiel aus Platon Plotan, oder aus Sokrates Sokratext. Das hat mich gereizt, ich hatte eine ästhetische Freude daran. Es ging mir gar nicht darum, ob es realistisch ist, ob jemand aufgrund seiner Demenz solche Fehler tatsächlich machen würde, deshalb habe ich gar nicht recherchiert.

 

Es wirkt schon glaubwürdig, als hätten Sie gründlich recherchiert, wie ein solcher Sprachverfall funktioniert. Sie sind bekanntermaßen ein begeisterter Oscar-Wilde-Kenner und Fan und man bekommt den Eindruck, dass da einiges von Sprachwitz, auf Pointen zusteuern mehr Wilde als Shakespeare sein könnte …

 

Dass die Dialoge so schnell laufen, ist vom englischen Drama beeinflusst, nicht von Shakespeare, bei dem sie ja eher langsam sind. Und Oscar Wilde ist natürlich ein absolutes Vorbild! Was mich interessierte: in welchem Koordinatensystem ein solcher Philosoph operiert, und mir war es wichtig, eine Figur mit anderen Koordinaten mir vorzustellen als jemanden, den die Öffentlichkeit kennt, zum Beispiel sollte Professor Eiger einen anderen Sprachduktus haben …

 

… als jemand, den die Öffentlichkeit kennt, wie Sie sagen. Beim Lesen des Stücks habe ich stärker an ihn – Walter Jens – gedacht, im Theater trat dieser Gedanke stark in den Hintergrund, vermutlich wurde vom Regisseur auch darauf geachtet, bei seiner Inszenierung nicht zu viele Parallelen aufscheinen zu lassen. Dennoch ist es so, dass zumal in Tübingen jeder bei einem dementen Professor sofort an Walter Jens denkt.

 

Natürlich habe ich das traurige Schicksal von Walter Jens mitbekommen, es gab ja zahlreiche Medienveröffentlichungen. Es hat mich auch sehr beschäftigt, aber es war allenfalls der Anlass, nicht der Grund. Der Grund war tatsächlich, dass ich immer schon eine Adaptation von Shakespeare schreiben wollte, und am liebsten eine des „König Lear“. Und es ist auch ganz stark ein Stück über das eigene Scheitern als Schriftsteller … Ich schreibe grundsätzlich keine Stücke oder Romane, die Personen eins zu eins abbilden, sondern nur ein allgemeines Bild verwenden. Bei diesem Stück habe ich viel aus meiner eigenen Phantasie geschöpft, schon wie die Personen essen und sich unterhalten, das ist von mir geschaffen, nicht abgeschaut. Ich habe ganz bewusst nicht die „Unvollständigen Erinnerungen“ von Inge Jens gelesen und auch nicht das Buch von Tilman Jens über seinen Vater, ich habe mir beim Schreiben nicht einmal Walter Jens vorgestellt.

 

Es ist jetzt vielleicht wohl mehr eine Frage der Rezeption, nämlich wie Zuschauer oder Kritiker damit umgehen …

 

Ich denke, dieses Stück hat nicht mehr und nicht weniger mit der Realität zu tun, wie meine anderen Werke. Zum Beispiel gibt es in meinem Roman „Die Würde des Lügens“ viele Elemente, die an meine eigene Großmutter erinnern, die meisten meiner Kollegen schöpfen aus etwas, was sie selber erlebt haben, aber man macht etwas anderes daraus. Es gibt diesen wunderbaren Satz von John Fowles in seinem Roman die Geliebte des Französischen Leutnants: „Ich möchte Welten schaffen, so wirklich wie die Wirklichkeit und doch anders als die Wirklichkeit.“ Wäre Literatur nur ein reines Wiedergeben von tatsächlichen Begebenheiten, dann wäre für mich das Schreiben mehr oder weniger irrelevant und bedeutungslos. Man muss aus der Wirklichkeit etwas komplett anderes machen, sie verfremden. Was ich an der Inszenierung im Zimmertheater sehr gut finde, ist das komischen Potential, dass die tragischen Stimmungen weggelacht werden können, dass eine Leichtigkeit hineinkommt, ohne dass man sich über die Figuren lustig macht.

 

 

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