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Beeinflusst Literatur die Menschen?

 

Joachim Zelter

 

 

Im Jahr 1999 schrieb das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg einen Essay-Wettbewerb aus. Die Preisfrage lautete: Werden die Menschen durch die Literatur beeinflusst? Anlass der Ausschreibung war der 250. Geburtstag Goethes. Im Jahr der Geburt Goethes stellte die Akademie zu Dijon die Preisfrage: Hat der Fortschritt der Wissenschaft und Künste zum Verderb oder zur Veredelung der Sitten beigetragen? Damals trug Jean-Jacques Rousseau den Preis davon. Die Frage des baden-württembergischen Kultusministeriums sollte weniger »systematisch-abstrakt, sondern auf der Grundlage von konkreten Erfahrungen, Erkenntnissen und Einsichten behandelt werden.« Hier eine nicht preisgekrönte Antwort:

 

* * *

Werden die Menschen durch die Literatur beeinflusst? Einfluss setzt eine Wirkung voraus, dass jemand oder etwas eine Wirkung hinterlässt. Der Literatur werden in der Regel drei Wirkungen zugeschrieben: delectare, prodesse et movere, auf Deutsch, die Unterhaltung, die Belehrung und das Wecken von Gefühlen. Der Begriff movere ist der wichtigste und alles entscheidende. Er bezeichnet eine Bewegung, nicht nur die Bewegung zu Gefühlen (Aristoteles), sondern Bewegung überhaupt: einen Leser oder Zuhörer oder Zuschauer zu etwas bewegen zu können, beispielsweise zum Lesen oder Zuhören oder Zuschauen. Vermag beispielsweise ein Buch, einen Leser über einen längeren Zeitraum zu halten, schon allein körperlich? Lässt sich ein Leser dazu bewegen, sich gerade nicht zu bewegen, also über Stunden und Tage an einem Ort zu sitzen und zu lesen? Gelingt es einem Buch, nicht nur geöffnet, sondern auch gelesen zu werden, vor allem aber: immer weiter gelesen zu werden? Literatur kann zu weitreichenden Handlungen und Entscheidungen bewegen. Ich nenne folgende Grundentscheidungen: ein Buch zu kaufen, zu öffnen, zu lesen, weiterzulesen, weiterzuempfehlen oder es zu veröffentlichen. Der letzte Punkt ist eine Entscheidung von großer ökonomischer, gesellschaftlicher und (ideen)­geschichtlicher Tragweite. Man nehme die Entscheidung, Romane wie Robinson Crusoe, Frankenstein oder Dracula zu veröffentlichen. Oder sie nicht zu veröffentlichen. Die Welt, in der wir leben, wäre anders, wären sie nicht veröffentlicht.

 

»Geschriebenes ist dem Gesprochenen vorzuziehen, und Gedrucktes ist noch besser«, schreibt der Philosoph Karl Popper. Er meint nicht die Eitelkeit des Autors, sondern folgendes: Das gedruckte Wort existiert objektiv, unabhängig vom Autor, in Bibliotheken oder Buchhandlungen, an öffentlichen oder privaten Orten. Ungeahnte Menschen können es lesen, kritisieren, diskutieren, weiterempfehlen … Es geht über das Leben einzelner Menschen hinaus und kann (wie Menschen) ein Eigenleben annehmen. Eigenleben bedeutet, wenn ein Buch sich unvorhersehbar auswirkt und immer weiter wirkt, unabhängig davon, was ein Autor beabsichtigt hat, wenn ein Buch zum Gegenstand zahlreicher Deutungen und Bedeutungen wird, die immer weitere Deutungen und Bedeutungen nach sich ziehen: Interpretationen, Neufassungen, Bearbeitungen, Adaptationen, Parodien, Verfilmungen etc. Nach Popper ist das der Prozess der Kultur, ob Philosophie oder Literatur: Kultur als Abfolge geistiger Artefakte, die unabhängig vom Vermögen einzelner wirken, weiterwirken bzw. die Schöpfung neuer Artefakte bewirken. Schreibend wächst der Schriftsteller über sich selbst hinaus, ob er es will oder nicht – selbst wenn nicht, so ist es fast unmöglich, ein Buch wieder rückgängig zu machen. Die fiktiven Welten der Literatur leben und wirken unabhängig vom Autor. Robinson Crusoe, Frankenstein, Dracula waren einst nur Namen, bedeutungslose Namen fiktiver Romanfiguren. Sie haben sich zu weltweit wirkenden Mythen gesteigert. Sie sind uns vertrauter als die dahinterstehenden Autoren. Die einflussreichsten Werke der Literatur begannen meist mit Namen, nicht mit Konzepten, sondern mit einfachen Namen (alle Tragödien Shakespeares haben Namen zum Titel). Heute stehen diese Namen für umfassende Konzepte, wenn nicht Mythen, die (gleich Religionen) weltumspannende Ausmaße angenommen haben. Sie verdanken ihre Existenz dem Umstand, dass sie geschrieben, gelesen und irgendwann einmal veröffentlicht wurden.

 

Wozu die Literatur die Menschen bewegen kann: zum Weinen, zum Lachen, bis hin zum kaum bemerkbarsten Lächeln (Nietzsche), zum Denken, zum Handeln, zum Leben, zum Selbstmord und zu vielem mehr, auch zur Nachahmung. Literatur, schreibt Oscar Wilde, folgt nicht der Realität. Die Wirklichkeit folgt vielmehr den fiktiven Entwürfen der Literatur. Sie ist kein Abbild, sondern ein Vorbild der Wirklichkeit. Sie kopiert nicht das Leben, sondern nimmt es vorweg.

 

Dies sind wohlbekannte Gedanken, die kaum mehr der Erwähnung bedürfen. Die vielfältigen Wirkungen der Literatur wurden immer wieder beschrieben: ob Furcht und Mitleid, Verzauberung oder Verfremdung, Belehrung, Bestürzung, Verstörung … Literatur als wesentlicher Beitrag zu unserer Welt oder zumindest als Beitrag, es in der Welt besser aushalten zu können … Darüber wurde oft geschrieben. Es soll hier um eine andere Frage gehen, eine Frage, die so belanglos scheint, dass sie nur wenige Menschen stellen. Es ist die Schicksals- und Existenzfrage eines jeden literarisches Textes: Wie es überhaupt kommt, dass ein Werk veröffentlicht ist? Kaum ein Buch, das wir lesen, erwähnt diese Frage. Keine Schulstunde geht dieser Frage nach, auch kein Universitätsseminar. Es scheint so, dass ein Buch ist, weil es ist oder immer schon war … Wir nehmen Bücher positivistisch: Sie sind nun einmal da. Die Richtigkeit ihrer Veröffentlichung erweist sich in ihrer Veröffentlichung. Und umgekehrt: Die Richtigkeit eines unveröffentlichten Werkes erweist sich in dessen Nicht-Veröffentlichung, mehr noch: Der Grund eines unveröffentlichten Werkes entzieht sich von vornherein jeder Erörterung, da dessen Existenz ja unbekannt ist. Am Anfang war das Wort. Doch kein Wort darüber, wie man es veröffentlicht.

 

Die Veröffentlichungsfrage stellt sich umso mehr, wenn man weiß, dass es heute mehr Leser, mehr Bücher, mehr Verlage und auch mehr schreibende Menschen gibt als zu jedem früheren Zeitpunkt, und dennoch der allergrößte Teil der Manuskripte unserer Kultur unveröffentlicht bleibt, unveröffentlicht bleiben muss, schon allein aus statistischen Gründen. Uwe Wittstock, Cheflektor im S. Fischer Verlag, nennt folgende Zahlen:

 

Von 1500 unverlangt zugesandten Manuskripten konnte, seit ich im S. Fischer Verlag als Lektor arbeite, durchschnittlich eines pro Jahr veröffentlicht werden; das ist, wie ich von Kollegen anderer Verlage weiß, eine vergleichsweise hohe Quote. (Börsenblatt des deutschen Buchhandels, Nr. 90/11. November 1997)

 

Werden die Menschen durch die Literatur beeinflusst? Heutzutage stellt sich die Frage anders: Ein literarisches Werk muss veröffentlicht sein, um sich kundtun zu können, um von seiner Existenz wissen zu können, um öffentlich wirken zu können. Bevor es öffentlich wirken kann, muss es in seiner unveröffentlichten Urform einige wenige, aber wichtige Leser (Lektoren) dazu bewegen, eine Entscheidung zu treffen. Ein positives Urteil allein ist nicht genug. Es geht um eine Entscheidung, eine Entscheidung von großer finanzieller Tragweite. Die Grundfrage eines jeden Textes, ob es ihm gelingt, nicht nur geöffnet, sondern auch gelesen zu werden, vor allem aber, immer weiter gelesen zu werden, stellt sich hier unter verschärften Umständen. Jedes Werk ist zunächst ein unveröffentlichtes Werk. Ist das unveröffentlichte Werk überdies das Werk eines unveröffentlichten (oder unbekannten) Autors, dann hängen alle weiteren Fragen von einer einzigen Grundfrage ab: Nicht die Frage, ob die Menschen, d.h. irgendwelche Menschen, durch Literatur beeinflusst werden, sondern die Frage, ob wenige, aber entscheidende Menschen sich zu einer Entscheidung bewegen lassen? Der Einfluss geht eher in die umgekehrte Richtung, wenn wenige Menschen über zahllose Manuskripte entscheiden: einige wenige werden auserwählt, die allermeisten bleiben unveröffentlicht. Es lesen hier nicht irgendwelche Leser, sondern professionelle Leser, die dem Manuskript sehr kritisch, wenn nicht misstrauisch gegenübertreten werden. Das Manuskript bekommt keine Hilfe von außen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes anundfürsich, ohne die üblichen B’s: das Beglaubigte, Bescheinigte, Bezeugte, Beeidete, Bewährte … Es befindet sich außerhalb der Fürsprachen eines Kanons. Alle literarische Kreativität wird sich durchsetzen, schreibt Harold Bloom in seinem Western Canon. Der Satz hängt noch immer über meinem Schreibtisch.

 

Ich gehe diesen Fragen nicht als Leser nach, der von diesen Dingen womöglich gar nichts weiß, sondern als Schriftsteller, der aus eigenem Erleben berichten will. Meine Darstellung wird schriftstellerisch sein – schriftstellerische Freiheiten eines Schriftstellers.

 

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Mein Rat an alle Schriftsteller, die ihre Manuskripte an Verlage zu schicken beginnen: Der Begleitbrief sollte kurz sein, frei von Erklärungen, warum man beiliegendes Werk geschrieben hat, wie es gemeint ist, wie es zu verstehen ist. Mit langen Erklärungen bringen wir die Lektoren von vornherein gegen uns auf. Sie sind es bereits: aufgebracht, überarbeitet und zum äußersten gereizt. Ein gutes Manuskript bedarf ohnehin keiner Erklärung. Es spricht für sich selbst. Stellt sich nun die Frage, wie man sie dazu bringt, das Manuskript durchzublättern? Indem man ihnen in aller Kürze schreibt. Der Brief darf nicht überschwänglich wirken: Schaut her, ich habe einen Roman geschrieben … Na und. Dies sind weder gute noch neue Nachrichten, sondern weitere Zentimeter eines ewigen Fließbandes. Sie blicken kaum anders als die Kassiererinnen in Supermärkten: überarbeitet, besorgt, verärgert, resigniert, ohne ein Ende ihrer Arbeit absehen zu können. Und der nächste Kunde, und der noch, und noch einer, und auch noch der, ausgerechnet der, meterweise Ders. Man gehe in einem Supermarkt einkaufen, stelle sich an eine Kasse, und man bekommt ein Bild von der Lage der Lektoren. Die Blicke der Kassiererinnen sprechen immer dieselben Worte: Bitte nicht! – so auch – vermute ich – die Blicke der Lektoren – der schlimmste Moment des Tages die Ankunft des Postboten. Ich sehe den seufzenden Widerwillen an ihren überladenen Tischen deutlich vor mir: Oje, ein Roman. Oder: Bitte nicht! Nun hat auch er angefangen zu schreiben. Vielleicht sollte man ihnen schriftlich versichern, lange Zeit nichts mehr zu schreiben, jedenfalls die nächsten Jahre, oder nur noch Kurzgeschichten, keine Romane mehr. Sie würden uns nicht glauben oder dies als freche Ironie zurückweisen. Romane und Kurzgeschichten. Mit solchen Bezeichnungen sollte man zurückhaltend sein. Ein angeblicher Roman kann sich schnell als Irrtum oder etwas ganz anderes erweisen: vielleicht als Novelle oder misslungene Erzählung, die sie mit dem Kommentar zurückschicken: »Das kann jeder behaupten.« Man sollte lieber nichts behaupten. Ohne etwas zu behaupten oder zu erklären oder zu präjudizieren, sollte man in einfachen Worten und in den allgemeinsten Formulierungen schreiben: Hier schicke ich Ihnen einen Text von mir, dies als nüchterne, meinetwegen triste Tatsache, die sie nicht abstreiten können. Wer könnte das Wort Text bestreiten. Die ganze Welt ist Text. Sie können, wenn sie das Kuvert öffnen, nicht leugnen, dass ein Text vor ihnen liegt, den sie soeben erhalten haben, erst recht, wenn er per Einschreiben kommt: Sehr geehrte Damen und Herren, hier schicke ich Ihnen einen Text von mir … Der Brief darf nichts Über- oder Unmäßiges mit sich führen; nichts Überspanntes oder Überflüssiges verbreiten. Er darf nicht angestrengt oder übersteigert oder gar verstiegen wirken; erst recht nicht exaltiert; auch nicht hoffnungsvoll. Hier schicke ich Ihnen einen Text von mir … Schon das Wort hier ist überflüssig. Es ist ja (zu ihrem Leidwesen) unverkennbar, dass das Manuskript hier ist, also sollte es besser heißen: Ich schicke Ihnen einen Text von mir. Von mir, ist ebenfalls unnötig. Von wem sonst sollte der Text sein? Von wo sonst hätte ich ihn schicken sollen, wenn nicht von mir? Also kürzer: Ich schicke Ihnen einen Text. Und selbst dieser Satz enthält Längen, da es ja offenkundig ist, dass ich ihnen und nicht irgendjemand anderem einen Text schicke, also müsste es heißen: Ich schicke einen Text. Das Wort Ich kann man ebenfalls streichen. Ein gewandter Brief beginnt nicht mit dem Wort Ich. Man könnte sogar sagen, der ganze erste Satz sei überflüssig, ist es doch offensichtlich, dass ich ich bin, dass etwas geschickt wird, dass ein Text und nicht etwas anderes geschickt wird.

 

Hier schreibt nicht irgendjemand einen Brief, sondern ein Schriftsteller, der auch an seinen Briefen gemessen wird. Ein guter Brief ist eine Form von angewandter Literatur, mit allen schriftstellerischen Wassern gewaschen, jedoch ohne schriftstellerisch zu wirken (oder, schlimmer noch, wirken zu wollen). Er ist unauffällig und wortkarg und geht jedem Streit aus dem Weg. Kein Schriftsteller sollte schreiben: Ich bin Schriftsteller. Man muss es anders formulieren: Ich habe einen Text geschrieben. Oder besser noch: Im Umschlag findet sich ein Text. Er findet sich auch, selbst wenn sie ihn nicht finden wollen. Es gilt unauffällig und bescheiden unbestreitbare Tatsachen zu übermitteln: Sehr geehrte Damen und Herren, im Umschlag findet sich ein Text. Oder: Anbei ein Text. Nur drei Wörter. Es ist überflüssig, den Titel zu nennen. Er steht erstens auf beiliegendem Manuskript und er wird zweitens ohnehin vom Verlag verändert werden. Der beste Brief wäre ein leeres Blatt Papier, nur mit dem Absender und der Anschrift und einer (nicht zu großen) Unterschrift versehen, und allerhöchstens (wenn überhaupt) einem einzigen Satz: Anbei ein Text.

 

Jedes Buch hat sein Schicksal, sagt ein lateinisches Sprichwort, so auch meine Bücher (oder besser Manuskripte), die alle ein ähnliches Schicksal haben, nicht einfach nur haben, sondern vielmehr durchlaufen haben, denn Schicksal ist mehr als nur ein bestimmtes oder vorbestimmtes Ende, sondern ein Verlauf, oder eine ganze Geschichte, mit Anfang, Mitte und Ende, und doch nicht Ende, weil es immer weiter geht oder man wieder von vorne beginnen kann …, eine Geschichte voller Wendungen, Schwünge und Umschwünge (Peripetien). Man denke an die Erzählungen des Christentums: Schöpfung, Fall, Jüngstes Gericht … Ganz ähnlich der Schicksalslauf meiner Manuskripte, nur in anderer Reihenfolge: Schöpfung, Gericht, Fall … Nächste Schöpfung, Gericht, Fall … Und noch einmal von vorne … Und noch einmal … Es begann mit der Schöpfung. Nichts leichter als das. Die Manuskripte lagen bereits fertig in der Schublade oder ich habe immer weitere geschrieben. Ich habe sie gerne geschrieben, liebend gerne.

 

Ich kaufte ein Verzeichnis, in dem alle Verlage in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet sind, ging methodisch vor, beginnend mit dem Buchstaben A, schickte das erste Manuskript an die erste Adresse des Buchstaben A … Nach sechs Wochen kam die Antwort: »Haben Sie besten Dank für Ihr freundliches Schreiben vom 13. des Vormonats.« Sie lobten bereits meinen Brief, den ich nach reiflicher Überlegung verfasst hatte: Anbei ein Text. »Ihre espritgeschwemmte Geschichte wurde zwischenzeitlich seitens unseres Lektorats gelesen …« Warum Geschichte? Es handelte sich um eine Erzählung. Glücklicherweise war ich von vornherein jedem Streit aus dem Weg gegangen und hatte meine Erzählung Text genannt. »Ihre esprit-geschwemmte Geschichte wurde zwischenzeitlich seitens unseres Lektorats gelesen …«, nicht einfach nur gelesen, sondern mit »anhaltendem Vergnügen und größtem Interesse eingesehen. Schmunzeln wiederholte sich immer und immer wieder in den Mundwinkeln des geneigten Lektors …« Ich war für die baldige Veröffentlichung meiner »Geschichte« vorgesehen, legte den Brief zur Seite, las den Brief ein zweites Mal: »Wir können eine prompte Herausgabe baldmöglichst vorsehen, wenn Sie zur Zahlung eines einmaligen Kosten- und Risikoanteils bereit sind.« Warum Risiko? »Siehe Anlage: Startauflage 300 Exemplare; Buchformat 205 x 135 mm, Karton, 240 g, zweifarbig (schwarz auf weiß), Drucklackierung (matt), Klebebindung, Druckkostenbeitrag 8.756,00 – zuzüglich 16 % gesetzlicher Mehrwertsteuern …«

 

Immer wenn ich einen neuen Anlauf unternahm, ein neues oder altes Manuskript erstmalig zu versenden, schickte ich es zuerst an diesen freundlichen, kleinen Verlag. Er war nicht nur freundlich, zu mir und zu den Manuskripten, sondern verlieh ihnen den größtmöglichen Schwung, den Anlauf und die Aura für weitere Versuche. Jedes Mal wurden meine Werke von diesem Verlag mit Begeisterung empfangen und mit den besten Wünschen (und auch voller Bedauern) zurückgeschickt. Sie waren voll des Lobes, nicht nur ihre Briefe, sondern auch meine Manuskripte, wenn sie mit diesen Briefen wieder zurückkamen. Ich spürte es. Ich roch es. Die Manuskripte strotzten vor Selbstbewusstsein und Sieghaftigkeit. Sie waren aufgeladen wie knisterndes Metall oder funkensprühenden Batterien. Sie waren voll des Lobes. Sie wirkten auratisiert. Mit einer einzigen Bewegung nahm ich sie aus dem Kuvert und steckte sie in neue Kuverts, die ich sogleich, solange das Selbstbewusstsein noch frisch war, an andere Adressen schickte, auf den Seiten des Manuskriptes noch die Fingerabdrücke und Berührungen dieses freundlichen Verlags; in meiner Schublade dessen enthusiastische Briefe, die mit meinen Manuskripten (eng aneinandergedrückt) im selben Kuvert gelegen haben. Die nachfolgenden Empfänger bekamen diese Aura zu spüren. Ich selbst spürte ihre Nachwehen, selbst wenn spätere Verlage mir einen negativen Bescheid gaben:

 

»Vielen Dank für Ihr Manuskript. Wir haben uns Ihr Werk angesehen, konnten uns aber leider nicht zu einer Publikation entschließen. Wir fällen damit jedoch weniger ein Urteil hinsichtlich der Qualität Ihres Textes, den wir für flüssig geschrieben und inhaltlich abgerundet halten, sondern bezüglich unserer Programmplanung. Aus diesem Grund empfehlen wir Ihnen, es bei einem anderen Verlag zu probieren.«

 

Immerhin: Sie bedankten sich. Immerhin, sie hielten den Text für flüssig geschrieben und inhaltlich abgerundet. Sie fällten kein Urteil über dessen Qualität, obgleich sie ihn für flüssig geschrieben und inhaltlich abgerundet hielten. Dafür fällten sie ein kritisches Urteil über ihr eigenes Verlagsprogramm, in das ein Werk nicht passen soll, das flüssig geschrieben und inhaltlich abgerundet ist. Wenn ich es nun inhaltlich aufgerundet hätte? Sie legten vieles zu meinem Vorteil und zu ihrem Nachteil aus. Sie kritisierten sogar ihr eigenes Programm. Sie wünschten mir viel Erfolg. Sie hielten meinen Text für keine Geschichte. Immerhin.

 

Die nächste Antwort des nächsten Verlags, nicht unfreundlich, doch die Sätze nun deutlich kurzatmiger, als hätte das Manuskript bereits an Ausstrahlung verloren: »Danke für Ihren Text. Wir haben ihn gelesen, konnten uns aber leider nicht für eine Veröffentlichung entscheiden. Ich sende ihn wieder zurück.« Die nächste Antwort: »Eine Veröffentlichung in unserem Programm kommt nicht infrage.« Erstmals spürte ich einen echauffierten Unterton. Das kommt überhaupt nicht infrage. Wie kann er es wagen. Als hätte ich einer unerreichbaren Frau einen Antrag gemacht. Die nächste Antwort: »Wir konnten Ihren Text zwar lesen, aber es ist uns nicht möglich, das Manuskript zurückzuschicken, wenn kein Rückporto beiliegt.« Nächste Antwort: »Wir sind mit Arbeit über beide Ohren eingedeckt und schaffen es einfach nicht.« Ich legte in das nächste Kuvert, um ihnen die Lesearbeit zu versüßen, Bonbons und Süßigkeiten. Die Antwort: »Da mir meine Mutter verboten hat, Süßes von Fremden zu nehmen, schicke ich Ihnen die Bonbons nebst Manuskript wieder zurück.« Die darauffolgenden Antworten: »Passt nicht in unser Programm.« Der ewige Refrain all dieser Briefe: Passt nicht ins Programm. Passt nicht ins Programm. Ich fragte sie schriftlich: Ob ich dieses Programm einmal einsehen dürfte? Ob sie mir dieses Programm vielleicht zuschicken könnten? Ob man es irgendwo kaufen könnte? Ich erhielt keine Antwort.

 

Der Monat Mai ist die ungünstigste Zeit, ihnen etwas zu schicken. Im Radio hörte ich die Klagen eines Verlegers über den Monat Mai: »Immer im Mai. Immer schicken sie ihre Sachen im Mai.« Wie nach einem Winterschlaf. Er hasste den Mai, sprach von absurden Blüten, von blühenden Pflanzen und blühenden Phantasien: »Es kommt der Mai, und es kommen die Manuskripte.« Als ob es sich um eine Maikäferplage handeln würde. Die Stimme im Radio krümmte sich vor Abscheu. Ich stellte mir vor, wie er sich, mit einer Fliegenklatsche in der Hand, in seinem Büro einschloss und wahllos auf die Plage einschlug: weg, geht weg, off you go … – an den Fenstern Moskitogitter, auf dem Schreibtisch Insektensprays. Jeden Tag bringt die Post weitere Säcke derselben Plage. Er sprach nun ganz offen: Die allerallermeisten Manuskripte seien unsäglich schlecht. Besonders im Monat Mai. Er hustete. Literatur sei ein langer Weg. Man könne nicht einfach, mir nichts, dir nichts, Texte verschicken. Man müsse (wie überall sonst) klein anfangen: ein erstes Gedicht, eine erste Geschichte; der Rat des Deutschlehrers; üben, üben und nochmals üben; vielleicht ein Schreibseminar und ein Dichter als Mentor; unter seiner Anleitung und Obhut weitere Aufwärmübungen; auf seine Empfehlung eine erste Lesung vor einer Jury; Lob und Kritik; Anregungen und noch ein langer Weg; Qualifikationen für kleinere Literaturwettbewerbe; wie im Sport: Bundesjugendspiele; F-Jugend, E-Jugend, C-Jugend …; Reiterabzeichen, A-Dressur, M-Dressur, S-Dressur …; Landesliga, Oberliga, Regionalliga, Bundesliga …

 

Ich verschickte, meinem Verzeichnis folgend, die Manuskripte in alphabetischer Reihenfolge, von A bis Z: A der freundlichste Buchstabe; B nicht unfreundlich, doch merklich lakonischer als A; C zunehmend gleichgültiger; D echauffiert; ab E die ständige Rede vom Programm: Passt nicht ins Programm; von F keine Antwort. Ich erkundigte mich bei F, warum sie mir nicht antworteten, und sie antworteten: »Nachdem Sie sichtlich ungeduldig werden und die Begutachtung noch einige Zeit dauern würde, ersuchen wir Sie um Zusendung von 10 DM, um Ihnen das Manuskript retournieren zu können.« Woraufhin ich antwortete: »Ich habe nur nach dem Stand der Begutachtung gefragt. Dies war keine Ungeduld, sondern nur eine Frage.« Woraufhin sie antworteten: »O doch, es war Ungeduld.« Ich hätte diesem Streit aus dem Weg gehen sollen. Ab G beginnt der Fall. Ich legte Zigarettenpapierchen zwischen bestimmte Seiten. Wenn die Manuskripte zurückkamen, weil sie nicht ins Programm passten, lagen die Papierchen unberührt. Ich war erleichtert. Ihre Antwort richtete sich weder gegen mich noch gegen den Text, den sie nicht gelesen hatten. Bei G fehlten die Papierchen. Kein Wunder. G fing an zu urteilen … Sie urteilten mit der Feststellung, dass ich nicht mehr länger behaupten könne, man habe mich nicht gelesen. Die drei Zigarettenpapierchen klebten neben dem ersten Satz ihres Briefes: »Anbei drei Zigarettenpapierchen. Unser Eindruck lässt sich mit einem Satz zusammenfassen …« Sie beließen es nicht bei einem Satz. Sie waren nach fünf Sätzen noch nicht fertig. Als hätten sie jahrelang auf dieses Manuskript gewartet, um gemeinsam, an einem langen Tisch sitzend, ein Exempel zu statuieren. Es muss endlich einmal gesagt werden. Es muss endlich einmal gesagt werden … In jedem Satz das Wort schlecht: unsäglich, unbeschreiblich, unerhört schlecht; der Ort der Handlung, die Handlung selbst, die Hauptfiguren und Nebenfiguren, meine Absichten …, schlecht, schlecht, schlecht … – und auch noch schlecht geschrieben … Und sie wiederholten ihre Feststellung, ich solle nicht behaupten, man habe mich nicht gelesen. Mit G begann der Fall. Das Manuskript bereits zerfleddert und voller Kaffeeflecken. Es schrieben nun nicht mehr einzelne Ichs, sondern viele Wirs: Wir finden … Wir denken … Wir meinen … Ich hatte G kaum abgelegt, da kam H, als hätte sich mein Fall bereits herumgesprochen: »Sie schicken ein Drama an unseren Verlag? Ein Drama!? Sind Sie noch bei Trost!?« I erwähnte mich mit keinem Wort, sondern fragte: »Ist Ihnen etwas aufgefallen? Haben Sie den Fehler bemerkt? Nein? Sie hätten ihn aber bemerken sollen. Der Konjunktiv!« Mein Fall war jedoch kein freier Fall. Es war nicht so, dass ich in direkter Fluglinie auf den Boden von X, Y, Z zuflog. An manchen Fenstern hörte ich aufmunternde Zwischenrufe und Zwischentöne. Man könnte die Fluglinie des Falls als ellipsenartige Kreisbahn sehen, die, wenn man sie aufzeichnet, der Form eines Saxophons nahekommt …,

 

A

B

C

D

E

F              W  V

G          X      U

H           Y      T

I             Z    S

J                 R

K               Q

L            P

M  N  O

 

eine Kreis- oder Flugbahn, deren rapider Fall gegen Ende des Alphabets (mit den Buchstaben O, P, Q) wie ein abstürzendes Flugzeug aufgefangen wird und wie bei einem Looping wieder an Höhe gewinnt, um sich mit den letzten Buchstaben schneckenförmig zusammenzurollen. Die Buchstaben A, B, C … die Startphase; G, H, I die G-Phase bzw. Beschleunigungsphase; die Buchstaben X, Y, Z die Auslaufphase, wenn die Bewegung (zusammengerollt in der Luft hängend) zum Stillstand kommt. Wie man sieht, wende­ten sich von P an die Antworten wieder zum Besseren. Brief von P: »Nun habe ich mir Ihr Manuskript angesehen und kann mir durchaus vorstellen, dass da ein Buch entstehen kann, leider nicht bei uns, da unsere Möglichkeiten, junge Autoren zu veröffentlichen, für die nächsten beiden Jahre erschöpft sind.« Ich antwortete, dass ich gar nicht mehr so jung bin, nach all den Jahren. »Gerne bin ich bereit, ein bis zwei Jahre zu warten.« Ob es möglich sei, mich auf eine Warteliste zu setzen? Keine Antwort. Brief von Z: »Mir gefällt Ihre Art zu schreiben, doch ich sehe nicht, wie man es zu den Menschen bringen kann.« Wie man es zu den Menschen bringen kann? »Indem es veröffentlicht wird«, schrieb ich zurück. Keine Antwort.

 

Alle Manuskripte folgten obiger Flugbahn: Ich verschickte Romane und Dramen. Ich verschickte auch einige Erzählungen, die ich gar nicht geschrieben habe, unbekannte Erzählungen bekannter Autoren, die ich in den Computer gescannt und unter meinem Namen ausgedruckt habe. Von R die Frage: Warum ich meine Werke unbedingt veröffentlicht wissen wolle? Warum? Ich wusste keine passende Antwort. »Warum immer gleich veröffentlichen?« Warum es mir nicht genug sei, nur für mich selbst zu schreiben? Fortan widmete ich meine Manuskripte mir selbst. Oder bekannten Autoren und mir selbst. Es vergingen Jahre … »Verzeihen Sie ungebührlich langes Warten, es ist auch schon einige Zeit her, dass ich anderen von meinen Lesefreuden erzählen konnte, schreiben Sie doch recht gekonnt – meist nicht unter dem Ihnen möglichen Niveau. Ihre Erzählung deutet an, dass vielleicht noch mehr von Ihnen zu erwarten sein könnte. So will ich gerne auf neuerliche Lektüre von Ihnen bei Gelegenheit warten.« Es gab zahllose Gelegenheiten, doch ich erhielt keine Antwort … Ich fragte einen Pfarrer nach dem Schutzheiligen für Schriftsteller, wovon er nichts wusste oder wissen wollte. Er wollte meine Manuskripte auch nicht weihen. Später hörte ich von einer Betenden, dass Merkur der Planet sei, der fürs Lernen, den Verstand und das Schreiben von Liebesbriefen (vielleicht auch von Liebesgeschichten) zuständig sei. Ich ließ mir von ihr Merkur zeigen … Im Radio hörte ich das Interview mit einer piepsenden Stimme, die dem Rat des Maikäferplagenverlages gefolgt war. Ich hatte nie ein Manuskript im Monat Mai an diesen Verlag geschickt … Nachts schrecke ich manchmal hoch, setze mich an den Schreibtisch und schreibe, alle mir bekannten und unbekannten Einwände berücksichtigend, meine Texte um … Seit einiger Zeit schicke ich keine Manuskripte mehr, sondern nur noch Briefe, in denen ich anbiete, etwas von mir zuzuschicken, natürlich nur dann, und wirklich nur dann, wenn dies erwünscht sei. Niemals erhielt ich schnellere Antworten: Bitte nicht! Fast flehend: Bitte nicht …

 

Werden die Menschen durch die Literatur beeinflusst? Sie werden, so hört man, durch Duftstoffe beeinflusst. Ich parfümierte meine Liebesgeschichten mit Pheromon, einem Duftstoff eines Erotikversandhauses. Selbst prüde Wesen könnten den Lockstoffen kaum widerstehen. Keine Antwort … Ich legte meinen Manuskripten Fotos bei, Fotos von mir, Fotos von meiner Kusine, im Bikini, ohne Bikini … Sie kamen postwendend wieder zurück; auch sie passte nicht ins Verlagsprogramm; oder ich hörte nie wieder von ihnen …

 

Veröffentlicht in: Konzepte: Literatur zur Zeit 19 (2000): 9-24.

Siehe auch: Das Gesicht. Roman eines Schriftstellers

 

⇒ Laudatio

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