Notizen

 

Zwei Arten von Schriftstellern

 

Es gibt zwei Arten von Schriftstellern: (1) Diejenigen, die erst anfangen zu schreiben und, wenn sie Erfolg damit haben, dann hauptberuflich Schriftsteller werden. (2) Diejenigen, die erst die Entscheidung treffen, Schriftsteller zu werden, und dann anfangen zu schreiben – wie zum Beispiel George Orwell: Er entschied sich Schriftsteller zu werden, als er fast noch nichts geschrieben hatte. Ich muss gestehen: Solche Schriftsteller stehen mir besonders nahe. Allein der Mut zu einer solchen Entscheidung hat bereits etwas Poetisches, ist eine Form von gelebter Literatur, ist eine literarische Tat, ganz gleich was daraus folgt.

 

 

Verstiegenheit

 

„Ein Dichter zu sein“, schreibt Hermann Hesse, „galt sogar für eine Ehre. Ein Dichter zu werden aber, das war unmöglich …, eine Lächerlichkeit und Schande, wie ich sehr bald erfuhr.“

 

Verstiegenheit wäre ein treffendes Wort für einen werdenden Schriftsteller – gleich der Verstiegenheit eines Bergsteigers, der in eine Wand steigt und sich mit der Zeit immer mehr versteigt, je weiter er seiner verstiegenen Lage zu entsteigen versucht. Es gibt kein Vor und kein Zurück. Keinen Ruhe- oder Rastpunkt. So hängt er in den Seilen, ohne Ausweg, ohne Hilfe, allenfalls von Ferngläsern aus entfernten Liegestühlen betrachtet.

 

 

Topographie

 

In der landläufigen Literaturbetrachtung gilt ein Autor als umso beachtenswerter, je weiter er auf einer zeitlichen oder räumlichen Achse von dem Hier und Jetzt entfernt ist. (1) Zeitliche Entfernung: Je zeitlich entfernter, je vergangener ein Schriftsteller ist, desto wirklicher, desto lebendiger scheint er. Der Tod eines Autors bringt diesen der Öffentlichkeit näher als sein ganzes Leben. Plötzlich erfährt er Sympathie und gebührende Anerkennung. Plötzlich legt man die Dinge für ihn aus, selbst seine Bücher. Sie werden wieder verlegt. Je länger er tot ist, umso gewichtiger, bewährter, bewahrter, bekannter – umso deutlicher gilt ihm unser Verständnis und unser Trost. Es gibt Menschen, die sich ein Leben lang mit einem einzigen toten Autor beschäftigen, aber keine fünf Minuten mit einem lebendigen. Es gilt der Satz: Lasst die Lebenden die Lebenden begraben. Die unwirklichsten Schriftsteller, sie leben mit uns in derselben Zeit, im selben Jahr, in derselben Minute. (2) Räumliche Distanz: Je weiter entfernt ein Autor von jedem beliebigen Ort in Deutschland aus gesehen lebt und schreibt (am besten außerhalb Deutschlands oder außerhalb Europas), umso gewichtiger, umso deutlicher, umso ernstzunehmender. Und umgekehrt: Je näher, je unmittelbarer, je lokaler ein Autor an einem bestimmten Ort, desto nichtiger, desto fragwürdiger, desto verdächtiger – verdächtig allein dadurch, dass hier ein Autor ist, der hier ist, und nicht irgendwo sonst. Das bloße Hiersein ist bereits verfänglich, erscheint als eine Form der Hochstapelei. Als ob er nicht genauso gut woanders leben könnte. Erst der abwesende Schriftsteller gelangt bei den Menschen zu einer Vorstellung: „Ah, er ist nicht mehr da. Wie interessant. Man sollte ihn vielleicht einladen.“ Der unwirklichste Schriftsteller, er lebt nicht nur in derselben Stadt, in derselben Straße, sondern im selben Haus.

 

 

Überflüssige Wörter

 

Oftmals besteht die Tendenz, seitens der Lektoren, aber auch in Schreibseminaren, Autoren den Rat zu geben, ihre Texte eher kurz zu halten, nichts zu übertreiben, unnötige Längen zu vermeiden, auf Adjektive zu verzichten, kurz: überflüssige Sätze oder Wörter, ja, alles Überflüssige zu unterlassen. Man betrachte zum Beispiel folgenden Passus aus Romeo und Julia. Romeo sagt:

Schau, Liebste, welch furchtbares Morgenrot,
Das dort im Osten der Frühe Wolken säumt.
Die Nacht hat ihre Kerzen ausgebrannt,
Der muntre Tag, auf Zehenspitzen, erklimmt die dunst’ gen Höhn.

Man könnte sich, nicht nur hier, viel kürzer fassen. Warum schrieb Shakespeare nicht: „Die Sonne geht auf.“ Oder: „Es wird Tag.“ Oder einfach nur: „Ich muss gehen.“ Drei Wörter statt vier Zeilen. Ich stimme den Schreiblehrern und Lektoren zu: Die Literatur enthält oftmals Längen. Einmal retournierte ein Verlag ein Manuskript von mir mit der Bemerkung: Der Roman sei viel zu lang. Viel zu geschwätzig. Der ständige Tenor der modernen Literatur: Das ist zu viel, viel zu viel, von allem zu viel. Bitte kürzer, schneller, knapper. Kein überflüssiges Wort. Dem kann ich nur entgegenhalten: Die ganze Literatur besteht aus überflüssigen Wörtern.

 

 

Gütliche Einigung

 

Alle Lyriker mögen doch, so die Anregung einer Lyrikerin, ihre Manuskripte mit dem feierlichen Versprechen an Verlage schicken, fortan sämtliche Lyrikbände des betreffenden Verlages zu kaufen, wenn dieser als Gegenleistung das eigene Manuskript veröffentlicht, so dass jede Veröffentlichung eines Gedichtbandes mit einer lebenslänglichen Kaufverpflichtung des Autors einhergeht, die Gedichtbände all der anderen – vergangenen wie künftigen – Lyrikautoren regelmäßig zu erwerben, die ebenfalls eine solche Kaufverpflichtung eingehen, ihr Leben lang, ad infinitum, also eine lyrische Kette: Dichter auf Käufer, Käufer auf Dichter, die am Ende einige hundert Menschen verbinden könnte, die ihr Schicksal brüderlich miteinander teilen.

 

 

Verriss

 

„Ein Verriss kann einen Autor nur weiterbringen, auch wenn es schmerzt.“ Kein Kritiker, sondern ein Schriftsteller schrieb diesen Satz. Seine Bücher bewegen sich im Reich der Unverständlichkeit. Sie sind – aus Erfahrung klug geworden – unverreißbar, gegen jeden erdenklichen Einwand abgesichert, hermetisch in Unverständlichkeit gehüllt. Vollkommen unverständlich und unverständlich vollkommen verschwimmen sie vor meinen Augen. Kein Leser der Welt kann ihnen mehr etwas anhaben. Keiner!

 

„Ein Verriss kann einen Autor nur weiterbringen.“ Der Satz erinnert mich an ein häufiges Eltern- und Lehrerwort meiner Schulzeit: Eine gute Tracht Prügel kann Kindern nicht schaden. Viele Kinder dieser Zeit sprachen bis zur Unverständlichkeit nuschelnd.

 

 

Unsterblichkeit

 

Manche Schriftsteller neigen dazu, ihr Werk zu anthropomorphisieren, es Menschen gleichzusetzen. Sie sprechen von ihren Büchern wie andere von Freunden oder Verwandten oder Kindern. Manchmal sprechen sie gar von Menschen- und Bücherrechten. Ein Buch ist für sie eine Geburt, ein langes Warten und Kämpfen, schließlich ein Kind, das man in den Armen hält, das aufstehen und seinen Weg gehen wird. „Das Buch fast zum Menschen geworden.“ Nietzsche. Viel mehr als nur ein gewöhnlicher Mensch, ist es doch denkbar, dass Bücher die Lebensspanne einzelner Menschen bei weitem übersteigen.

 

So dachte auch ich. Eines Tages ging ich in eine Buchhandlung und fragte nach meinem eigenen Buch. Der Buchhändler sagte, es sei vergriffen. Und in der Tat: Es war nirgendwo mehr erhältlich. Und auch keine Aussicht auf eine Neuauflage. Welche Ironie, glaubte ich doch ernsthaft, Bücher seien eine Form der Unsterblichkeit. Das Buch lebte nicht einmal zwei Jahre. Kürzer als die Lebensspanne eines Hamsters.

 

 

Alter und Altern der Schriftsteller

 

Zu den wichtigsten Tugenden und Untugenden des Schriftstellerberufs gehört das Alter und das Altern. Die Regel lautet: Je jünger und jugendlicher, umso besser. Man assoziiert damit Vorstellungen wie: Talent, Schönheit, Geist, Unschuld, Zukunft, eine neue Sprache, eine neue Generation, eine neue Zeit … Viele Juroren ergießen sich in Begattungsphantasien: „Ach wie jung, wie schön, wie weit entwickelt, auch der Busen …“ Mancher Roman ist todlangweilig, doch ist diese tödliche Langeweile die Langeweile eines Jugendlichen, dann wird man – fast ein wenig seufzend, wenn nicht verliebt – sagen: „Er/Sie ist doch noch so jung. Lolitawürdig.“ So wie umgekehrt ein mitreißender Roman schnell uninteressant werden kann, wenn sich das Alter des Autors herausstellt: „Er ist aber schon recht alt.“

 

Bei Ausschreibungen zu Stipendien oder Preisen wird die Frage des Alters nicht selten offen angesprochen: „Bitte nicht älter als 35.“ Teilweise in einem echauffierten Unterton: „Wagt es nicht, ihr schwülstige Gestalten fortgeschrittenen Alters, wagt es nicht, euch an unserer Jugend zu vergreifen. Wagt es nicht, auch nur daran zu denken, euch auf dieses oder jenes Stipendium zu bewerben! Es wäre ein pädophiler Affront.“ Hin und wieder auch Warnungen, es bewürben sich Schriftsteller um Stipendien oder Preise, die gar nicht mehr so jugendlich seien. Man möge sich bitte nicht jünger machen oder fühlen als man tatsächlich ist.

 

Als ob Jugend von vornherein etwas Gutes, Richtiges, Wahres, Reines, Förderungswürdiges wäre – und umgekehrt: das Altern nicht nur ein körperlicher, sondern auch ein literarischer Verfall. Man könnte ja auch umgekehrt argumentieren, dass ein älterer Schriftsteller durch sein bloßes Alter schon gestraft genug ist (der Rücken tut ihm beim Schreiben weh, er muss mehr Geld für Medikamente und Ärzte aufbringen, die Blicke der Frauen verlassen ihn etc.) und gerade er dringend der Förderung bedarf.

 

Mit dem 35. Lebensjahr endet – endgültig – jede schriftstellerische Jugend. Spätestens dann kann keine Rede mehr sein von Zukunft, Talent, Unschuld oder einem glatten Busen. Die Zeit zwischen dem 35. und 55. Lebensjahr ist für einen Schriftsteller die schwierigste – sofern er noch nicht den Durchbruch geschafft hat. Das Wort Midlife-Crisis ist hier nicht nur eine Befindlichkeit, sondern eine existentielle berufliche Krise. Häufig schon das Ende des Lebens – zumindest aller literarischen Lebens- und Überlebensmöglichkeiten. Erst für das 55. Lebensjahr und danach gibt es wieder ein wenig Hoffnung, beispielsweise gesonderte Seniorenstipendien. Ein 55-Jähriger wäre dann wieder die Verkörperung größter Jugend im Alter. So wie ein hundertjähriger Schriftsteller mit Fug und Recht behaupten dürfte: der älteste Schriftsteller Deutschlands zu sein. Das ist doch etwas!

 

 

Minenfelder

 

Die besten Geschichten sind grünbe­pflanzte Minenfelder, auf denen groteske Gartenzwer­ge stehen, die das Gelächter unbedarfter Spaziergänger herausbrechen lassen. Schritt für Schritt werden sie weitergelockt, bis die Sprengsätze in die Luft gehen.

 

 

Literatur und Wirklichkeit

 

Oft sagt man, als höchstes Lob, ein Roman sei derart realistisch, er könnte Wirklichkeit sein. Selten sagt man, die Wirklichkeit sei derartig unterhaltsam, bizarr, verwegen … – sie könnte Literatur sein.

 

 

Arabeske

 

Arabeske: Das ist die stilisierte Rankenornamentik der islamischen Kunst. In einem weiten Sinn versteht man darunter jede ausholende und verschlungene Umrahmung. Wenn zum Beispiel ein gewaltiger Bilderrahmen das darin enthaltene Bild erschlägt. Wenn das Eigentliche von dem Uneigentlichen umrahmt, umrankt, erdrückt wird. Wenn das Nebensächliche zu einer Hauptsache wird, und umgekehrt. Wenn der äußere Rahmen wichtiger wird als das Bild.

 

Literarische Lesungen sind meist Gegenstand arabesker Umrankungen. Wie oft wird damit geworben, an welch ungewöhnlichen Orten eine Lesung stattfinden soll: in Tunneln, Zugabteilen, Aufzügen, Kellerlöchern, Zirkuszelten, auf Stocherkähnen oder öffentlichen Toiletten … Oder unter welch ungewöhnlichen Umständen gelesen wird: im Rahmen erlesener Dinners oder während einer Schiffsfahrt oder im Rahmen einer Unterwassergymnastik oder während der Autor massiert oder ihm ein Zahn gezogen wird … Immerzu wird unterstellt: Eine Lesung allein genügt nicht. Ein Autor allein genügt nicht. Ein einfacher Raum genügt nicht. Ein Publikum allein hält das nicht aus. Ohne ein Äußeres, ohne einen Rahmen, ohne einen Anlass oder Grund, ohne Ablenkung oder Zerstreuung oder Linderung scheint keine Lesung mehr möglich. Als ob eine Lesung bereits im Vorgang ihrer Durchführung Wiedergutmachung leisten müsste, den unvermeidlichen Schmerz, den sie bereitet, mittels schnell bereitgestellter Ablenkungen lindern müsste. Eine Lesung ohne Rahmen ist demnach ein Grauen, schlimmer noch als eine Schulstunde, ja, fast eine Operation, die ohne Narkose oder Schmerzmittel stattfinden soll. Was für ein Bild: die Unerträglichkeit einer Kunst, die man nur durch zahllose äußere Umrahmungen zu ertragen glaubt. Welch grenzenlose Geringschätzung, nicht nur der literarischen Lesung als Kunst, sondern der Literatur überhaupt. Welch furchtbarer kultureller Erfahrungsschatz, der dem unterschwellig zugrunde liegt. Man denke sich Kinofilme, die nur dadurch erträglich würden, weil man sie in U-Booten oder in abstürzenden Flugzeugen anschaut.

 

Bereits die zeitlichen Begrenzungen literarischer Lesungen sind vielsagend. Eine Lesung darf nach allgemeiner Meinung nicht länger als 60 Minuten dauern. Besser nur 45 Minuten. Wie Schulstunden. Noch besser 30 Minuten. Man vergleiche dies mit anderen Künsten. Ein Drama darf durchaus drei Stunden dauern. Auch Opern. Selbst Fußballspiele dürfen länger dauern als literarische Lesungen. Welch niederschmetternder Vergleich!

 

Kurz vor einer Lesung fragte mich die Veranstalterin, wie lange ich denn zu lesen gedenke. Ich dachte an etwa 60 Minuten. Sie blickte entsetzt. Dann fragte sie mich, ob die Lesung eine Pause beinhalte. Ich verneinte. Sie wurde geradezu panisch, sagte, eine Pause sei unerlässlich. Ein kaltes Büffet sei vorbereitet. Das Publikum müsse spätestens nach 25 Minuten etwas zu essen bekommen. Es war ihr voller Ernst! Als ob Babys oder Hunde dieser Lesung beiwohnen würden. Als ob ohne Essen eine literarische Lesung nicht einmal mehr körperlich durchführbar wäre. Haben wir Autoren das angerichtet?

 

Veröffentlicht in Kakteenhaut. Hrsg. Ulrich Zimmermann & Anke Böhm. Stuttgart, 2005; 85-92.

 

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