Das Leben oder das Sterben verlängern? „Schlemm“ – Nicola Bardolas beeindruckender Roman über den Freitod
Buchtipp von Joachim Zelter (2006)
Das Telefon klingelt. Ein Vater teilt seinem erwachsenen Sohn einen Termin mit. Es ist der 9. Dezember. Dies ist kein gewöhnlicher Termin, „sondern eine Deadline.“ Es ist der Tag, an dem sein Vater aus dem Leben scheiden wird. Und mit ihm seine Frau. „Das Gespräch ist kurz. Kommentare und Gefühle werden auf später verschoben.“
Mit dieser Ankündigung eines doppelten Freitodes beginnt der Roman von Nicola Bardola mit dem Titel Schlemm (soeben im A1 Verlag erschienen). Erst nach und nach erfahren wir über die Beweggründe dieser Ankündigung: Bei dem Vater ist es ein unheilbares Krebsleiden. „Er will nicht nur die Operation vermeiden, sondern auch alle zu erwartenden Komplikationen nach dem Befund: Schmerzen, Delirien, Morphium. All das komme für ihn nicht in Frage. Er will den Schlussstrich selber ziehen.“ Bei der Mutter ist es die Gewissheit, dass ein Leben ohne ihren Ehemann sinnlos ist. Ihre Bereitschaft, mit ihrem todkranken Mann zusammen den Freitod zu wählen, sie entfaltet sich in Bardolas Roman auch als Liebesbeweis, „la plus grande preuve d’amour possible.“ Insofern ist Bardolas Erstling nicht nur ein Roman über das Sterben und über den Freitod, sondern auch ein Liebesroman, in dem (wie seit jeher in der Weltliteratur) die Themen Liebe und Tod aufs engste miteinander verbunden sind – je näher der Todestag der Protagonisten rückt, desto eindringlicher und bewegender.
Die genaue Terminierung des elterlichen Freitodes erklärt sich durch den Umstand, dass ein Arzt – nach einem langen Gespräch – sich bereit erklärt hat, ihnen das Schlafmittel Natrium-Pentobarbital zu verabreichen. Natürlich wirft ein derartiger Entschluss zahllose Fragen auf, die in Bardolas Roman in einer beeindruckenden Spannweite unterschiedlichster Stand- und Gegenstandpunkte entwickelt werden: von Senecas Satz, „dass es ein großer Unterschied ist, ob jemand sein Leben oder Sterben verlängert“, bis hin zu der Frage: Ob man sich „den Tod wie eine Pizza beim Heimservice bestellen darf?“ In keinem Moment behandelt Bardola diese Fragen leichtfertig. Er legt im Gegenteil mit seinem Erstling einen umfassenden Ideenroman zu einem der zentralsten Lebens- und Literaturthemen vor. 400 Jahre nach Hamlet leistet er eine hochkomplexe (moderne medizinische, gesellschaftliche, philosophische Entwicklungen in Rechnung stellende) Variation des Monologs: „Sein oder nicht sein, das ist die Frage.“
Eine Frage, die für die beiden Elternfiguren von der ersten Seite des Romans an entschieden ist. Nichts und niemand kann sie mehr umstimmen. Ihr Ende ist von der ersten Seite an beschlossen. Qua ihres eigenen Beschlusses. Und der Roman erzählt minutiös nicht nur die zahlreichen Beweggründe der Eltern, die für diesen Entschluss sprechen, sondern auch das unerbittliche Näherrücken des Todestages. „Die Sonne steht hoch über dem Piz Larisch. Franca setzt die Sonnenbrille auf. Sie sollen ein letztes Mal nach Stuvar hinauf. Paul dreht sich um, schließt die Tür ab und wundert sich, dass Franca und er so ruhig sind. Es ist ihr vorletzter Tag.“
Die Reaktionen der übrigen Romanfiguren reichen von Fassungslosigkeit, Verständnislosigkeit bis hin zu stummer Hilflosigkeit. „Luca läuft weiter, immer weiter, bis er nicht mehr anders kann und irgendwann mit dem Sterben einverstanden ist.“ Und auch der Leser neigt dazu, sich innerlich gegen die Teleologie dieses Endes aufzulehnen, auf ein Ereignis zu hoffen, das dieses Ende, wenn schon nicht aufhebt, so vielleicht doch vertagt. Bardolas Roman kommt hier dem Urprinzip aller Tragödie nah: Unabwendbarkeit der Geschehnisse, an deren Ende der Tod steht. Der Roman entfaltet einen unwiderstehlichen Sog des Hinein- und Mitgezogenwerdens. Beginnend mit der lakonischen Art, wie er zu Beginn den Freitod der Eltern ankündigt, bis hin zu der millimetergenauen Behutsamkeit in der Beschreibung der Tage, der Stunden, der Minuten des Sterbens – auch der Gedanken, der Erinnerungen der Sterbenden. Ein einzig verfehltes Wort hätte hier so viel zerstören können. Wort für Wort begleitet der Erzähler die Eltern in ihren selbstgewollten Tod.
Hemingway schrieb einmal, dass man in der Literatur Gefühle am meisten dadurch wecken kann, dass man sich einer zurückhaltenden, behutsamen, gefühlsreduzierten Sprache bedient. Und genau das gelingt diesem Roman.
Während gewöhnliche Romane in der Vergangenheit, also im epischen Präteritum erzählt werden, entfaltet sich der Erzählsog in Bardolas Roman in dem Hier und Jetzt der im Präsens erzählten Ereignisse, bis hinein in den Präsens des Sterbens. Keine Vergangenheit stiftet hier Distanz. Das Leben und das Sterben wird uns in größter Unmittelbarkeit vor Augen geführt. Bardola, der Meister (wenn nicht Erfinder) des epischen Präsens.
Eine Freundin rief vor Tagen an und sagte, dass ihre Mutter nach langer, schwerer Krankheit gestorben ist. Ihre Mutter hat genau jenes Leid durchgemacht, das die Figuren in Bardolas Roman verhindern wollten. Und unversehens habe ich der Freundin von Bardolas Roman erzählt. Er hat so viele Seiten: nicht nur die umfassendste literarische Erörterung des Freitodes, die ich kenne. Er gibt zugleich wertvolle Gedanken an die Menschen, die den Weg seiner Figuren nicht gehen wollen oder können. Als ich der Freundin von dem Buch erzählte, spürte ich, dass ihr dies ein kleiner Trost war, alleine dadurch, dass hier ein Autor ist, der das Thema Sterben in solcher Achtsamkeit und Behutsamkeit und Vielseitigkeit in einem bewegenden Buch behandelt hat.
Bibliographische Angaben: Nicola Bardola: Schlemm. Roman. Erschienen im A1 Verlag, München 2005.
Markus Orths, Das Zimmermädchen
Buchtipp von Joachim Zelter (2009)
Das Zimmermädchen Lynn putzt im Hotel Eden. Sie putzt gründlicher als jedes andere Zimmermädchen, hält sich dabei immer länger in den von ihr geputzten Zimmern auf. Dabei erhebt sie das Putzen zu einer Kunst, zu einem Sinn- und Ordnungs- und Lebensprinzip. Sie wischt und schrubbt in den entlegensten Winkeln, selbst im Innersten von Vasen, und sie sagt Sätze wie: Das Schöne am Putzen sei, dass es immer wieder dreckig werde.
Von außen gesehen ist die Heldin in Markus Orths neustem Roman ein nahezu unauffälliges Mädchen: arbeitsam, fleißig, angepasst, zu Überstunden bereit, ohne Freunde; im wahrsten Sinne selbst-los. Ohne Lebenspläne, ohne Eigen-Sinn, ohne eigene Wünsche oder Vorstellungen ihrer selbst. Doch in den Hotelzimmern lebt sie auf, entdeckt die Welt in mikroskopischen Ansichten, auf der Suche nach den letzten Atomen potentiellen Schmutzes.
Nichts entgeht ihrer gesteigerten Aufmerksamkeit, auch nicht das Gepäck, die Kleider, die letzten Kekskrümel der Hotelgäste. Jeder Gast verkörpert für sie eine eigene Welt der Mitbringsel und Habseligkeiten, die Lynn sichtet und berührt und an sich hält. Sie betrachtet sich im Spiegel, in den Kleidern der Gäste, entschwindet – in ihrer Phantasie – in fremde Identitäten und unerreichbarer Welten. Fast wird sie dabei von einem Gast ertappt. Mit letzter Not flüchtet sie unter sein Bett, verbringt dort die Nacht mit diesem Gast, der von ihrer Existenz unter seinem Bett nichts ahnt. Sie schaut mit im fern. Sie lauscht seinen Telefon- und Selbstgesprächen. Und so entfaltet sich eine beziehungslose Zweisamkeit auf zwei Ebenen. Eine über/unterbettliche Co-Existenz, an der sich Lynn atemlos labt.
Und mit dieser Nacht (Initiationsnacht) beginnt für Lynn nun eine neue Art von Existenz: ein Leben aus unterbettlicher Perspektive. Einmal in der Woche verbringt sie ihre Nächte in Zimmer 307, Höhe- und Fixpunkt ihres vereinsamten Lebens, erlebt fortan aus Lattenrost- und Matratzenperspektive die Welt der Hotelgäste – fragmentarisch und gebrochen, ohne sich auf all das, was sie hört und sieht, einen Reim machen zu können. Denn es sind im wahrsten Sinne nur Ausschnitte, die sie hört und sieht: Fußknöchel, Socken und andere Kleidungs- und Lebenszipfel von Einzelmenschen oder Paarmenschen, die über ihr liegen, sich unterhalten oder streiten oder miteinander schweigen. Sie erlebt Ausschnitte von Ehedialogen und Ehebrüchen; Berufsdialoge oder Berufsmonologe – je nach Nacht und je nach Gast. Und so werden für Lynn diese Nächte zu einem Lebenselixier, zu einer Form von gesteigertem, dreidimensionalem Kino, zu einer Synästhetik (visuell, akustisch, olfaktorisch) teilhabender Fremdheit und fremder Teilhabe.
Markus Orths’ Roman bewegt sich zwischen Kafkas Verwandlung und Camus’ Der Fremde. Er bringt die ganze Fremdheit, Verlorenheit, Einsamkeit, Verlassenheit und Beziehungslosigkeit unserer Zeit auf den Punkt, mehr noch: in ein Bild. Und Besseres lässt sich über einen Roman nicht sagen, ein Roman, der, statt Erklärungen oder Bedeutungen oder Botschaften, Bilder weckt: das Bild einer unterbettlichen Weltschau eines verstörten Zimmermädchens.
Bei aller Tragweite ist dieser Roman in einer wunderschönen, völlig unprätentiösen und leichtfüßigen Sprache erzählt, nicht (wie im Roman üblich) in der Vergangenheitsform, sondern in der Unmittelbarkeit einer mitreißenden Erzählgegenwart, in einem epischen Präsens, der einen unwiderstehlichen Erzählsog entfaltet, mit atemlosen Dialogen und Passagen von großer aphoristischer Schönheit.
Nicht zuletzt ist das ZIMMERMÄDCHEN auch eine Allegorie auf den Schriftstellerberuf. Auch dieser Beruf ist ja eine Form von nicht gelebtem Leben, von Ersatzleben, von Unterbettexistenz … Und auch der Putzzwang der Hauptfigur, die Art wie sie putzt und schrubbt, und schrubbt und putzt, die kleinsten Partikel von Unreinheit ausmerzend, all das erinnert, wie Markus Orths einmal geschrieben hat, an den Schriftsteller, der seine Texte gleichfalls schrubbt und putzt, der das Geschriebene in unendlichen Durchläufen säubert, „um auch noch den kleinsten Fleck und Makel aus dem Text auszumerzen.“ Um am Schluss dann zu erkennen: dass dieser hochgesteigerte Anspruch literarischer Perfektion „nur eine Zwangsvorstellung, eine Illusion ist.“
Was immer man über den Roman von Markus Orths, der letztes Jahr mit dem Telekom Austria Preis in Klagenfurt ausgezeichnet wurde, auch denken mag. Eines ist sicher: Nach Lektüre dieses Buches wird man nie wieder in einem Hotel übernachten, ohne vorher unters Bett zu schauen.
Bibliographische Angaben: Markus Orths, Das Zimmermädchen. Frankfurt: Schöffling, 2008. 144 Seiten. € 16,90.