Reihengräber

 

Reihengräber abgelehnter Manuskripte

 

Joachim Zelter

 

 

Wie kommt es, dass ein Buch veröffentlicht ist? Kaum ein Buch, das wir lesen, erwähnt diese Frage. Keine Schulstunde geht dem nach, auch kein Uni­versitätsseminar. Die Frage scheint derart belanglos, dass sie nur weni­ge Menschen stellen. Wir nehmen Bücher positivistisch: Sie sind, weil sie sind, weil sie sind. Oder sie sind eben nicht, aus keinem anderen Grund, als weil sie nicht sind. „Keine Seligkeit ohne Bücher“, schreibt Arno Schmidt. Wohl wahr. Es gibt aber auch keine Bücher ohne Veröffentlichung.

 

Jedes Werk ist zunächst ein unveröffentlichtes Werk. Es kann sich erst kundtun, wenn es veröffentlicht ist. Dazu muss es in seiner unveröffentlich­ten U­rform einige wenige, aber entscheidende Leser (Lektoren) dazu bewegen, eine Entscheidung zu treffen: die Entscheidung, ein Buch überhaupt veröffentlichen zu wollen – oder veröffentlichen zu können. Ein positives Urteil alleine genügt nicht. Es geht um eine Entscheidung von großer fi­nan­zieller und kultureller Tragweite. Hier lesen nicht irgendwelche Leser, sondern professionelle Leser, die dem Manuskript (zumal bei einem unbekannten Autor) sehr kritisch, wenn nicht miß­trauisch oder mißmutig gegenübertreten. Womöglich werden sie das Manuskript nicht einmal lesen, sondern es abwartend lagern und wieder zurückschicken. Und selbst wenn sie es ernsthaft lesen – die allerallermeisten Manuskripte werden wieder zurückgeschickt. Uwe Wittstock, ehemals Cheflektor im S. Fischer Verlag, nannte vor einigen Jahren folgende Zahlen: „Von 1500 unverlangt zugesandten Manuskripten konnte, seit ich im S. Fischer Verlag als Lektor arbeite, durchschnittlich eines pro Jahr veröf­fentlicht werden.“ (Börsenblatt des deutschen Buchhandels, Nr. 90/11. No­vember 1997). Ob man dies nun bedauert oder nicht, man sollte wenigstens darum wissen: Ein Großteil unserer literarischen Kultur existiert nur in unveröffentlichter Form, in ungeahnten Reihengräbern zurückgewiesener Manuskripte.

 

Sie werden mit dem ständigen Satz zurückgewiesen: Paßt nicht ins Verlagsprogramm! Anders als Parteiprogramme sind die Verlagsprogramme nicht so leicht einzusehen. Ich selbst fragte hin und wieder bei Verlagen brieflich nach, ob man mir dieses Verlagsprogramm vielleicht zusenden könnte, um es zu studieren – ich erhielt keine Antwort. Am Anfang war das Wort, doch kein Wort darüber, wie man es veröffentlicht.

 

Man mag einwenden, die abgelehnten Manuskripte seien der Veröffentlichung gar nicht würdig. Doch dies ist ein positivistischer Zirkel: aus der bloßen Nicht-Öffentlichkeit eines Werks dessen Nicht-Würdigkeit abzuleiten. Nach dem Motto: Die Richtigkeit einer Ver­öffentlichung zeige sich gerade in deren Ver­öffentlichung. So wie umgekehrt die Rich­tigkeit einer Nicht-Veröffentlichung bereits in deren Nicht-Veröffentlichung zutage trete. Als ob wir durch die bloße Existenz-/Nicht-Existenz von Büchern schon Einblick in die Richtigkeit von Verlagsentscheidungen hätten. Das haben wir gerade nicht: Der Grund eines un­veröffentlichten Werkes entzieht sich von vornherein jeder Erörterung, da dessen Existenz ja un­bekannt ist. Wer könnte sich anmaßen, einen Überblick über Wesen und Zahl sämtlicher unveröffentlichter Manuskripte zu haben.

 

Vielleicht wäre es ein interessantes Experiment, würden alle Verlage eine Saison lang besonders die abgelehnten Manuskripte veröffentlichen, um somit – aus dem Negativen – die Güte ihrer sonstigen Buchentscheidungen in aller Öffentlichkeit zu dokumentieren. Vielleicht ergäbe sich dabei so manche literarische Entdeckung.

 

Börsenblatt: Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel (170. Jahrgang, 2003, Heft 24): 18.

 

 

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