Kunst + Kultur

 ⇒ WEITERE INTERVIEWS

Jahrgang 14, Nr.4 November/Dezember 2007

 

Im Gespräch mit Burkhard Baltzer & Jürgen Meier

 

KUNST+KULTUR: Joachim Zelter, als Du den Roman „Schule der Arbeitslosen“ geschrieben hast, der jetzt als Drama auf gleich sechs Bühnen inszeniert wird, war Dir bewusst, wie wenig über dieses Thema geschrieben worden ist?

 

JOACHIM ZELTER: Was andere über das Thema geschrieben hatten, interessierte mich nicht. Ich kannte allerdings Bücher aus den späten 20er und frühen 30er Jahren zum Thema. Und natürlich die klassischen Utopisten wie Thomas Morus bis hin zu Oscar Wilde. Heute sind historische Romane oder die Welt rein-ästhetisch betrachtende Romane gefragt und weniger gesellschaftspolitische.

 

K+K: Interessanterweise ist es aber immer ein Thema utopischer Literatur gewesen!

 

ZELTER: Wohl aus dem Wunsch heraus, den Arbeitstag zu verkürzen oder entfremdete und materiell-stoffliche Arbeit, die nicht erfüllt, entweder gerecht zu verteilen oder über die Verteilung erträglicher zu machen. Das ist bei „Utopia“ von Morus so, auch bei Campanella im „Sonnenstaat“ oder bei Oscar Wildes immer wieder kehrender Forderung nach individueller, befreiter Arbeit statt der entfremdeten.

 

JÜRGEN MEYER: Du hast jetzt zwei Mal von entfremdeter Arbeit gesprochen. Auch in den hier auf dem Tisch liegenden Büchern stehen Zeichnungen entfremdeter Arbeit im Vordergrund. Sie prägt meist unser gesamtes Leben. Bei philosophischer Betrachtungsweise ist es jedoch so, dass vor der entfremdeten Arbeit ein Entwicklungsprozess liegt: Ohne Arbeit hätte es keine Menschwerdung gegeben und auch keine Kultur. Es ist absolut problematisch, dass wir heute strikt zwischen Arbeitswelt und Kultur trennen! Denn was ist Arbeit anderes als eine Kultivierung der uns äußeren Natur durch Arbeit? Durch diesen ursprünglichen Prozess haben sich Gebärden entwickelt, hat sich Sprache entwickelt – die Entfremdung, so wie wir sie heute erleben, spielte damals sicherlich noch keine Rolle. Interessanterweise haben im Rückblick die Proletarierbücher – Beispiel Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ oder die Literatur der Arbeitswelt, wo der Maurer seine Ecke mauert – wenig mit Literatur zu tun, sie sind oft parodiewürdige, weltanschauliche Betrachtungen. Im Konflikt zwischen entfremdeter Arbeit und dem Ringen um individuelle entsteht Literatur. Vielleicht gibt es deshalb so wenig darüber.

 

K+K: Moment, wir haben heute die Situation, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung – und Ihr müsst mindestens alle Menschen hinzurechnen, die in den letzten 18 Jahren aus ihren Arbeitsverhältnissen entfernt wurden – von ihrer Arbeit entfremdet worden ist. Umso seltsamer ist die Diskrepanz zwischen der Werkkreis-Zulauf, einst eine regelrechte Manuskripte-Fabrik, und den Fehlstellen auf dem Buchmarkt. Warum?

 

MEYER: Zunächst: Joachim bezeichnet seinen Roman als einen dystopischen.

 

ZELTER: Ja, eine negative Utopie im Sinne von Huxley und Orwell, einer noch nicht bestehenden Welt.

 

MEYER: Ernst Bloch nennt das „konkrete Utopie“. Und diese konkrete Utopie im Hinblick auf Arbeit und Arbeitswelt beginnt ja im gesellschaftlichen Sein selber: Der Mensch stellt nur jene Fragen, die er durch seine gesellschaftliche Bedingtheit auch beantworten könnte. Warum es so wenig Literatur gibt zum Zustand der Arbeitswelt, trotz aller Vorstellungskraft: Es ist unbequem, darüber nachzudenken und zu schreiben. Alles, was hier an Büchern auf dem Tisch liegt, scheint mir im Ansatz echt zu sein: Es gibt die Deformation der Bewerber, die Du, Joachim in der „Schule der Arbeitslosen“ beschreibst. Es gibt dieses quälende „Mobbing“ bis zum Rausschmiss, das Annette Pehnt schildert, und es gibt auch den idiotischen Wahn der Vollbeschäftigung durch entfremdete Jobs, der in „Ganze Arbeit“ bei Mill geschildert wird. Alle drei Modelle kreisen um die Entpersönlichung.

 

ZELTER: Für mich war es Absicht, nicht einen utopischen Entwurf zu verfassen, bei dem sich der Leser zurücklehnen kann mit der Beruhigung, „na das ist ja erst in 50 Jahren so“. Das sollte schon oszillieren: Ist das schon so oder ist das noch nicht ganz der Fall? Die Strategie des Romans zielte auf das Beängstigende.

 

MEYER: Auszuhalten ist dieses Beängstigende durch die Ironie? Ich las das fein ironisch, wie Du, Joachim, etwa die körperliche Vorbereitung der Bewerber schilderst.

 

K+K: Ich empfand dieses Körperpflegeprogramm eher als Relikt der fitten Bürgerlichkeit, als ein Fassaden-Element, als von der Werbe-Industrie inszenierten Charakterteil. Es wird viel Wert gelegt auf Ordnung in der „Schule der Arbeitslosen“.

 

MEYER: Dadurch entsteht doch gerade das Bild von Pappfiguren.

 

ZELTER: Als Teil einer Satire. Übrigens ist es sehr interessant, dass fast alle dystopischen Romane auch satirische Romane sind. Selbst „1984“ ist eigentlich eine Form von Satire – bei aller Schreckhaftigkeit.

 

K+K: Stichwort „1984“ und damit zurück zu Zensur und Selbstzensur, mit der Jürgen Meyer soeben die Unterbelichtung des Motivs „Arbeit“ in der Literatur begründete. Welche Gründe vermutest Du dafür?

 

ZELTER: Wir stecken in einem fundamentalen Paradigmenwechsel, in dem es für das Neue weder Sprache, noch Begriffe gibt. Wir haben uns aus einer Arbeitsgesellschaft zu einer Post-Arbeitsgesellschaft entwickelt. Vorhin sprachen wir über entfremdete Arbeit, aber der Arbeitsbegriff selber unterliegt der Entfremdung. Wir sind erzogen worden, uns über Arbeit zu definieren, wobei es Ziel war, Vollbeschäftigung und ständige Zuwächse zu erzielen. Das können wir nicht mehr erreichen, wir können uns aber nicht einmal klarmachen, wie wir damit umgehen. Massenarbeitslosigkeit ist andererseits ein Indikator für eine ungeheure Produktivität, und wir könnten diese Erscheinung umdefinieren, in dem wir sagen: Lassen wir doch Maschinen arbeiten, und die freigestellten Menschen könnten anders produktiv oder künstlerisch arbeiten. Doch unsere Konditionierung lässt diesen kulturellen Sprung nicht zu. Wir sind daran gefesselt, dass wir nur mittels Erwerbsarbeit unser Leben fristen können. Es gibt längst andere Arbeitsformen, die existenziell wichtig sind wie das Schreiben, Ehrenämter und sich um andere Menschen zu kümmern.

 

K+K: Ist das Schreiben für Dich keine Erwerbsarbeit?

 

ZELTER: Wenn es das wäre, könnte ich nicht schreiben. Es ist deutlich, dass man davon nicht leben kann, also ist es eine freiwillige Arbeit. Ich jedenfalls kann keinen Roman verfassen mit dem Ziel, davon leben zu wollen.

 

MEYER: Sofort hat man dann die Schere im Kopf. Und somit sind wir bei der kapitalistischen Verwertung von Arbeit: Es wird bei immer weniger Menschen immer mehr Produktivität herausgeholt, und diese Menschen sind in Maschinensysteme eingespannt. Es geht um die Steigerung von Profiten. Dazu wird die Produktion in Länder verlagert, in denen die Menschen billiger produzieren. All das, damit irgendwelche Vorstände wieder 21 Millionen Euro mehr Gewinn einfahren. Diese Erscheinungen, in der Summe bedacht, führen zu klassischen sozialistischen Gesellschaftsmodellen, in denen andere Arbeitsmodelle Platz haben, auch Müßiggang mit dem Ziel der Persönlichkeitsentwicklung.

 

ZELTER: Mit Post-Arbeitsgesellschaft meinte ich, dass die bezahlte, weisungsgebundene Arbeit ausgeht, mit der ich meinen Lebensunterhalt verdienen kann. Wir haben wohl eine doppelte Krise: Einerseits steigt die Arbeitslosigkeit und selbst diejenigen, die Arbeit haben, können davon nicht mehr leben. Vorbei sind die Zeiten, in denen ich eine Arbeitsstelle fand, der ich 50 Jahre treu sein konnte, dank derer ich heiraten, wohnen und Kinder bekommen konnte – ein rundes Leben. Nein, was die Menschen heute brauchen, sind nicht mehr Arbeits-, sondern Einkommensstellen.

 

K+K: Grundeinkommen für alle?

 

ZELTER: Grundeinkommen für alle.

 

K+K: Wie soll das durchgesetzt werden, wo sich doch gerade durch den sozialen Druck, den die Arbeitslosigkeit schafft und die Verknappung von Arbeit, noch größerer Profit erwirtschaften lässt?

 

ZELTER: Wie das gehen soll, das beschreibt unter anderem der Unternehmer Götz Werner in seinem Buch „Einkommen für alle“: Wir leben in einer Überflussgesellschaft gigantischen Ausmaßes. Bei der deutschen Widervereinigung wurde ein komplettes Land, der Osten, derart versorgt, dass im Westen nirgends Mangel zu spüren war. Darüber hinaus herrschte weiter Überfluss, obwohl 17 Millionen neue Konsumenten dazu gekommen waren. Nur Arbeitsplätze waren Mangel. Ökonomisch wäre das Grundeinkommen leistbar, es ist nicht kostspieliger als alle Transferleistungen des Staates. Mit einem Grundeinkommen wären die Menschen abgesichert und könnten einen wahren Arbeitsmarkt frequentieren und die Bedingungen verhandeln.

 

MEYER: Dieser Gedanke, so bestechend er ist, führt jedoch weg von der internationalen Situation, den Kapitalmärkten und den Reservearmeen des Proletariats, wie das klassischerweise mal hieß, und eben auch den Arbeitslosen, die – angeheuert – die Löhne drücken. Wenn nicht sogar ganze Industriezweige abgebaut und im Billiglohnausland neu errichtet werden.

 

K+K: Dennoch sollte der Gedanke nicht ausgeschlossen werden, schließlich ist er auch Dank André Gorz (siehe Seite 15) seit rund drei Jahrzehnten lebendig. Noch älter sind andere Diskussionen zur entfremdeten Arbeit: Der Bildungsstandard ist gewachsen, gleichzeitig ist die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen gesunken.

 

MEYER: Die Kapitalisierung im Konsumbereich hat ebenfalls enorm zugenommen. Das, was als Mußezeit bezeichnet wird, ist Zeit und Anlass zum Zudröhnen.

 

ZELTER: Es gibt eine weitere problematische anthropologische Konstante: der Gedanke, dass der Mensch a priori faul sei. Aufgrund seiner Trägheit müsse er beständig von außen motiviert oder bestraft werden. Damit hat der Einwand gegen das Grundeinkommen zu tun: Ein solches Geschenk würde die Menschen nicht produktiv machen; sie würden stattdessen vor dem Fernseher sitzen. Meine Überzeugung ist allerdings, dass der Mensch sehr produktiv ist – tätig und neugierig. Und wenn man von der „toten“ Arbeit wegkäme und der Zeit, sich für die entfremdete Arbeit zu reaktivieren, dann würde man auch zu produktiver Freizeit gelangen. So würde die Welt nicht nur wieder interessanter, sondern auch fruchtbarer.

 

K+K: Ein Teil der Welt.

 

MEYER: Gegen diese Utopie anzuführen, sind Kriege aus Kapitalinteressen. Ich halte es aber für zwingend notwendig an Klassenbewusstsein zu erinnern. Es ist doch ein irrer Witz, wenn Iain Levison seinen Roman „Abserviert“ über die Odyssee auf dem Arbeitsmarkt, im Untertitel „Mein Leben als Humankapital“ nennt. Wir wollen kein konkurrierendes Humankapital, wir wollen Solidarität. Kunst hat dabei für mich die Aufgabe Selbst-Bewusstsein zu bilden: Zu zeigen und zu hinterfragen, wie wir miteinander leben. Wie können wir die Verhältnisse Subjekt-Objekt positiv gestalten?

 

ZELTER: Kunst darf nicht instrumentalisiert werden. Ich stimme zu, dass solche Begriffe wie Klassenbewusstsein oder Solidarität wieder betont werden sollten, denn wir leben heute in einer völligen Bewusstlosigkeit. Die Sprache heute deutet darauf hin, dass wir nicht einmal mehr in der Postmoderne leben, sondern in einer konzeptionellen Vormoderne. Klassenbewusstsein bedeutet allerdings für mich, dass es jenseits aller Ökonomie ein ungeheures Leid ist, wenn Menschen meinen, nur dann der Gemeinschaft dienlich sein zu können, wenn sie Erwerbsarbeit haben. Dem Klassenbegriff muss ein anderes Wertbewusstsein hinzugefügt werden. Man kann heute das Leben nicht mehr vom Innehaben eines Arbeitsplatzes und weisungsgebundener, sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit abhängig machen.

 

K+K: Ein großes Aber: In den 15 Jahren, in denen Arbeitslosigkeit wie derzeit herrscht, hat sich überhaupt nichts am Stellenwert dieser Arbeit geändert – eher ist der Nimbus noch gewachsen; Arbeitslose sind stärker deklassiert. Und bei aller Liebe zur Utopie: Erinnert sei erstens daran, dass uns, an den Gewerkschaften vorbei, globalisierte Bedingungen aufgezwungen wurden, die in ganzen Erdteilen kaum mehr abbildbares Elend erzeugt haben. Zweitens sei daran erinnert, dass wir hier in Deutschland bislang nicht einmal die Mindestlohndebatte erfolgreich führen konnten. Nie war der Imperialismus mächtiger.

 

MEYER: Deshalb finde ich es gut, dass die Gewerkschaften erst einmal für Mindestlöhne eintreten, ehe sie sich für das Grundeinkommen einsetzen. Europas Gewerkschaften müssten dies vereint europaweit tun. Das Konkurrenzgebaren reicht nämlich von der Familiensituation über Ost- und Westdeutschland und Europa bis über den Teich.

 

K+K: Die Konkurrenz – in jeder Hinsicht – erfreut sich allerbester gesellschaftlicher Pflegeprogramme. Währenddessen geschieht ein kolossaler Werteumbau. Vollbeschäftigung ist passee, es sei denn, es fahren wie in Mills Roman „Ganze Arbeit“ Riesen-Trucks umher, um Teile für Riesen-Trucks von A nach B und C und von dort wieder nach A zu transportieren.

 

ZELTER: Ich halte Mindestlöhne für sehr wichtig, damit man in Würde von der Arbeit leben kann. Niemand weiß das besser als ich, der als Schriftsteller deutlich weniger verdient als je in einem gewerkschaftlichen Kontext ausgehandelt wurde, wie unendlich bedrückend es ist, nicht von seiner Arbeit leben zu können. Dennoch meine ich, dass die Arbeitslosigkeit wachsen wird. Deshalb werden nur mit einem Grundeinkommen Menschen- und Bürgerrechte realisierbar sein. Das Grundgesetz ist nur so haltbar. Wenn ich mit Hartz IV Menschen zwingen kann, irgendeine Arbeit zu verrichten, ist das im Grunde Zwangsarbeit.

 

K+K: Uns selbst mit dem Ein-Euro-Zwangsarbeit-Job kann ich nicht teilnehmen am gesellschaftlichen Leben. Längst gibt es millionenfaches Leben jenseits des bundesrepublikanischen Grundgesetzes.

 

ZELTER: Hinzu kommt die Orwellianische Sprache der Wirklichkeitsverzerrung, die kaum mehr auffällt – eine totalitäre Sprache! Etwa, wenn vom Recht auf Arbeit die Rede ist, was in Wahrheit (abgesehen davon, dass dieses „Recht“ gar nicht erfüllt wird) ein Zwang zur Arbeit ist, um irgendwie leben zu können. Die Menschen brauchen auch nicht Arbeitsplätze, sondern Einkommensplätze. Agenturen für Arbeit sind Arbeitslosenagenturen. Reformen sind inzwischen grundsätzlich Verschlechterungen. Hier sehe ich übrigens eine wesentliche Aufgabe der Schriftsteller, den Wirklichkeitsgehalt und den Missbrauch von Sprache zu überprüfen.

 

MEYER: Die Arbeitskraft des Menschen hat wieder extremen Warencharakter erlangt: Er muss sich anbieten wie im 19. Jahrhundert, wo Marx mit seiner Kapital-Theorie den Nagel auf den Kopf traf. Heute sind die Prozesse anonymisiert, komplexer durch die Globalisierung. Den Masereelschen Holzschnitt-Kapitalisten siehst Du heute nicht mehr. Das System ist schwer durchschaubar und nicht mehr allein mit der Trillerpfeife zu bekämpfen. Eine Aufgabe der Gewerkschaften ist es, auch intellektuelle zur Analyse des Systems beizutragen: Warum bist Du die Ware Arbeitskraft? – Ob Du nun promoviert bist oder einen Lehrabschluss hast.

 

K+K: Oben dran an der ver.di-Bundeszentrale steht: „Würde hat ihren Preis“.

 

MEYER: Das hört sich ja zynisch an…damit ich sieben Euro 50 kriege?

 

ZELTER: Jeder Mensch sollte das unbedingt reflektieren, auch die Warenhaftigkeit. Die Entwicklung geht allerdings dahin, dass die Ware Arbeitskraft immer weniger gebraucht wird. Darin liegt eine doppelte Demütigung.

 

MEYER: Unsere Skizze von Problemen: Was bedeutet die für Dich als Künstler, Joachim? Es gibt ja nichts Schlimmeres als Romane, aus denen der Zeigefinger ragt.

 

ZELTER: Plothafte Romane suggerieren, dass man Lösung hat oder Strukturen dafür. Was letztendlich heißt: Ich kann irgendwie sagen, wie die Gesellschaft beschaffen ist und wie sie sich verändern könnte. Ich bevorzuge demgegenüber szenische Beschreibungen, denn als Schriftsteller bin ich skeptisch. Ich meine, die unerbittliche soziale Realität ist erst einmal aufzuzeigen. Der Schriftsteller ist also wie ein Maler, der in seinem Bild einen Zustand festhält – und keine Bildergeschichte macht. Bei der „Schule der Arbeitslosen“ hat man mir immer wieder vorgeworfen, ich hätte keine Lösung. Meine Antwort darauf: Wenn ich denn eine Lösung hätte, hätte ich längst die Nobelpreis, nicht für Literatur, sondern für Wirtschaft.

 

K+K: Und was ist Dein Ansatz als Autor, Jürgen?

 

MEYER: Bislang die Satire auf regionaler Ebene. Weil sich dort im Moment eines Streiks zum Beispiel der ganze Kosmos der Gesellschaft spiegelt. Wir dürfen keine Betroffenheitsliteratur produzieren und keinesfalls der modischen biografischen oder autobiografischen Literatur nachgeben.

 

K+K: Noch einmal: Ich halte das für verrückt. Millionen Menschen sind in den letzten Jahrzehnten ausgegliedert worden aus der Gesellschaft. Und es gibt kaum Bücher über das Thema dieser Ausgliederung.

 

MEYER: Die schämen sich, die haben keine Stimme, die werden beäugt. Ich bin eingezogen in ein Haus, wo man mich nach Wochen der Beobachtung verklemmt im Treppenhaus abgefangen hat, um zu fragen, warum ich morgens nicht das Haus verlasse, um zur Arbeit gehen.

 

ZELTER: Meine Erfahrung, wenn ich in Grand Hotels zu Lesungen eingeladen war und ich dort aus der „Schule der Arbeitslosen“ lesen wollte: Die Leute wollten das nicht hören. Sie sagten, sie könnten die Nacht nicht schlafen, aus Angst, in eine solche Situation zu geraten. Die verdrängen solche Themen. Oscar Wilde hat mal gesagt, wie lebten nicht mehr in einem Zeitalter der Prinzipien, sondern der Persönlichkeiten. „Die Schule der Arbeitslosen“ ist eben kein psychologischer, sondern ein struktureller soziologischer Roman. Deshalb ist es für mich kein Zufall, dass die Literatur heute sehr historisch, sehr persönlichkeitsorientiert, sehr klassisch, psychologisch-individualistisch orientiert ist, weil das exakt dem Gesellschaftsvertrag entspricht, nach dem jeder seines eigenen Glückes Schmied zu sein hat oder es war. Das System ist o.k., und wer da nicht reinpasst, muss in die Psychiatrie oder er ist, weil er unangepasst ist, Klient der Agentur für Arbeit. Das Systemproblem des Kapitalismus ist in ein persönliches Problem verwandelt worden. Das ist eine ungeheure Beleidigung von ´zig Millionen Individuen.

 

EnglishFrench