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WEITERE INTERVIEWS

 

 

Lieber Herr Zelter, wie beurteilen Sie den gegenwärtigen Stand der deutschen Literatur?

 

Schwer zu beurteilen, da ein beträchtlicher Teil der deutschen Gegenwartsliteratur der Öffentlichkeit nicht wirklich bekannt ist. Sie wird entweder kaum rezipiert oder erst gar nicht veröffentlicht. Ich kenne zahlreiche fulminante Romane, die trotz jahrelanger Bemühungen keinen Verlag gefunden haben – also bis zum heutigen Tag unveröffentlicht sind. Und dies ist möglicherweise ein entscheidender Aspekt der Gegenwartsliteratur, dass bei Weitem nicht alle Manuskripte (eigentlich nur ziemlich wenige) überhaupt eine Veröffentlichung finden, und dass diejenigen Werke, die öffentlich rezipiert werden, einen langen Prozess der Auslese, der Filterung und der Anpassung durchlaufen haben. Wir leben also in einem präformierten Horizont gefilterter Wahrnehmung – unter uns Massengräber abgetriebener (oder den Autoren ausgetriebener) Manuskripte, von denen wir keine Ahnung haben, dass es sie überhaupt gibt. Manchmal vergesse ich es sogar selber, dass meine besten Texte unveröffentlicht sind.

 

Ich selbst muss gestehen, dass mich deutsche Literatur kaum mehr anzieht. Entweder wird ein banales Feuchtgebiet hochgejazzt oder es gibt bei manchem Nachwuchsschreiber eine Innerlichkeit um der Innerlichkeit willen. Ist das Politische, das Gesellschaftliche als Thema der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in der deutschen Literatur verloren gegangen?

 

Es gibt in der Tat zwei Tendenzen: Entweder die Bücher werden immer angepasster und gefälliger. Man erlebt Dammbrüche der Profanierung. Demgegenüber steht (und das ist das andere Extrem) eine hochformalisierte Literatur, die sich in einer sublimen und hermetisch abgeschotteten Unverständlichkeit einrichtet. Ihre Unverständlichkeit wird nicht selten zu einem Ausweis höchster Literarizität stilisiert. Zwischen diesen beiden Extremen haben gesellschaftspolitische Themen kaum Platz. Literarische Texte, die sich solcher Themen annehmen, gelten womöglich sogar als oberflächlich, unsachlich und nicht ausgewogen. Eine solche Ablehnung gesellschaftspolitischer Themen kann man in der deutschen Literatur bis zu Thomas Manns »Betrachtungen eines Unpolitischen« zurückverfolgen. Literatur und Politik sind nach Mann unvereinbar. Politik ist für ihn geradezu unappetitlich und widerlich, das direkte Gegenteil allen Erhabenen und Literarischen. »Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand« (Thomas Mann). Heute würde man sagen: Sachlichkeit, Ordnung und Welthaltigkeit, ein Wort, das im Feuilleton und bei Preisverleihungen immer wieder auftaucht. Welthaltig. Was immer dieses Wort auch bedeuten mag: Tiefe, Substanz, universale und ewige Themen … – es bedeutet sicher nicht die Thematisierung gesellschaftspolitischer Fragen. Ganz anders dagegen die angelsächsische Tradition. Gesellschaftspolitische Themen und Literatur waren dort nie ein Widerspruch, sondern sehr eng aufeinander bezogen. Man denke nur an Jonathan Swift und George Orwell – eminent politische Autoren, die Weltliteratur geschaffen haben. Ich könnte noch zahlreiche andere Autoren nennen: von Charles Dickens über Anthony Trollope bis hin zu Aldous Huxley, Arthur Miller, Edward Albee oder Edward Bond.

 

Wenn ich mir Grass anschaue, habe ich das Gefühl neue Ideen und neue Antworten kommen zumindest von den großen Altvorderen nicht mehr. Da wird Israel kritisiert und das soll dann die große Offenbarung, der Tabubruch sein, obwohl es nichts anderes ist als die klassische Verurteilung Israels durch die Achtundsechziger Linke und man den Unsinn angesichts der dauernden Wiederholung noch nicht einmal ignorieren muss. Teilen Sie meinen Eindruck oder irre ich mich und die deutsche Literatur ist jedenfalls im Nachwuchs fähig, eine sich verändert habende Wirklichkeit mit neuen Gedanken zu erfassen?

 

Ich kenne – gerade unter den jüngeren Autoren – sehr beachtenswerte Schriftsteller, die innovative Formen und Ideen ausprobieren, die in ihren Texten immer wieder an die Grenzen gehen – und ein guter Text sollte unbedingt an die Grenzen des Bekannten, des Vertrauten, des Gesicherten und des Erlaubten gehen. Ein Ritt auf der Rasierklinge. In dieser Art. Nur leider werden derlei Texte hierzulande immer seltener veröffentlicht. Und selbst wenn sie irgendwo in einem kleinen Verlag veröffentlicht werden, so finden sie so gut wie keine Beachtung. Sie gelangen nicht in die Arenen umfassender gesellschaftspolitischer Diskurse. Was in totalitären Systemen die Zensur, ist bei uns die Nichtveröffentlichung beziehungsweise die Nichtbeachtung. Systemtheoretisch gesprochen sind das das viel elastischere und effizientere Modi der Verhinderung als die klassische Zensur.

 

Lesen galt früher als das Bildungsgut schlechthin. Mittlerweile fordern die Ökonomen Mathe, Physik und wirtschaftliche Kenntnisse, gewisse religiöse Gruppen bauen wiederum an jeder nur erdenklichen Ecke Tabus auf. Hat diese, sagen wir mal etwas verkrampfte Art der Erziehung Einfluss auf das Leseverhalten und damit Schreibverhalten deutscher Autoren?

 

Es sind nicht nur einzelne Tabus, die das Leseverhalten (und damit auch das Schreibverhalten der Autoren) beeinflussen, sondern der Umstand, dass uns die literarische Moderne zunehmend abhanden gekommen ist. (Siehe dazu Mario Andreottis sehr lesenswertes Buch »Die Struktur der modernen Literatur«). Moderne bedeutet ja: der grundsätzliche Bruch nicht nur mit Tabus, sondern mit allen erdenklichen konventionalisierten Strukturen, Formen und Wahrnehmungen. Die Literatur vor hundert Jahren war nach einer solchen Maßgabe wesentlich moderner als unsere heutige. Modern ist heute zu einem Synonym für aktuell oder zeitgenössisch verkommen. Modern im Sinne von innovativ, subversiv, gesellschaftspolitisch engagiert gibt es kaum noch. Und es gibt auch keine Postmoderne mehr. Beides ist längst vorbei. Stattdessen befinden wir uns in einer diffusen Postpostmoderne oder wieder in einer völlig behäbigen Prämoderne, in einem Neobiedermeier. Und natürlich hat das auch einen massiven Einfluss auf das Schreibverhalten vieler Autoren. Es ist eine schleichende Verabschiedung von den Errungenschaften der Moderne und eine Hinwendung an das Gängige und Gefällige.

 

Ein amerikanischer Freund ist sehr skeptisch gegenüber den wie Pilzen aus dem Boden schießenden Kursen für kreatives Schreiben. Er meint, heutzutage wolle jeder schreiben, aber dadurch würde die Fähigkeit zu lesen verloren gehen. Teilen Sie diese Einschätzung?

 

Ja, das teile ich. Je mehr ich gelesen habe, umso mehr kann ich mein eigenes Schreiben reflektieren und einordnen, kann direkt oder indirekt Bezug auf andere Texte (Prätexte) nehmen, kann mit Formen, Genres und Traditionen spielen. Die Parodie, die Ironie (und gute Literatur braucht ein hohes Maß von beidem) – all das ist ohne einen Fundus an gelesener Literatur kaum möglich.

 

Früher waren zumindest in Russland die Literaturkritiker bzw. ihre Zeitschriften sehr einflussreich. Belinskij oder Dobroljubow konnten jenseits von Marktüberlegungen mit ihren künstlerischen und gesellschaftlichen Argumenten Bücher, Stile und vor allem Themen machen. Wer bestimmt eigentlich heute in Deutschland, was und wie geschrieben wird? Sind das noch die großen Intellektuellen unserer Zeit?

 

Nein, heute sind das eher Agenten, Lektoren, Programmleiter, Verlagsvertreter, die bestimmen, was geschrieben wird – oder genauer, die bestimmen, was veröffentlicht und was nicht veröffentlicht wird. Es sind die Instanzen an den Schnittstellen zwischen Literatur, Marketing und Markt: die Ermöglicher, aber auch die Verhinderer von Literatur. George Orwell schrieb einmal einen Essay mit diesem Titel: »The Prevention of Literature«. Und er meinte damit die Verhinderung der Literatur durch politische Tabus und Vorgaben. Er selbst hatte (aufgrund politischer Faktoren) enorme Probleme »Animal Farm« veröffentlicht zu bekommen. Heute sind es nicht mehr politische, sondern ökonomische Vorgaben, die Literatur bestimmen – oder eben auch verhindern. Sie sind kaum weniger vehement als die politischen Totalitarismen des letzten Jahrhunderts, mit dem Unterschied, dass es heute die Allmacht des Marktes ist, die darüber bestimmt, was veröffentlicht wird und was nicht. Die Literatur ist auch heute im hohen Maße gefährdet. Vielleicht sogar mehr als je zuvor.

 

Nun hing der Einfluss Belinskijs sicher auch damit zusammen, dass zumindest die Westler annahmen, die Russische Literatur hätte eine Mission. In späteren Zeiten hat man in linken Kreisen Deutschlands von der Literatur ebenfalls einen Beitrag zur Volksaufklärung erwartet. Hat die Deutsche Literatur heutzutage einen gesellschaftlichen Zweck und wenn ja welchen?

 

Nach Oscar Wilde sollte man die Literatur gerade von aller Zweckhaftigkeit bewahren. Ihr höchster Zweck ist für Wilde ihre Zwecklosigkeit. »All Art is quite useless.« Das Wort »useless« ist für ihn keine Nichtigkeit, sondern im Gegenteil eine große Qualität – jenseits irgendeines Verwertungszusammenhangs oder einer expliziten Zielsetzung. Das Wichtigste ist für ihn die Freiheit und Autonomie der Kunst, nicht im Sinne einer gesellschaftspolitischen Folgelosigkeit oder Wirkungslosigkeit, sondern im Gegenteil: Je freier, je autonomer ein Künstler und sein Kunstwerk, desto größer die Potentiale dadurch die außerliterarische Wirklichkeit aufzumischen oder zu durchdringen. Heute scheint es genau umgekehrt: Viele Autoren sind derart beherrscht von (äußeren wie inneren) Absichten, Anliegen und Zwängen, dass ihre Werke damit jede Kraft und Wirkmacht einbüßen.

 

In der Vergangenheit gab es in den jeweiligen Nationalliteraturen oft eine oder mehrere unbestrittene Figur unter den Literaten, der andere Autoren nacheiferten. Gibt es die gegenwärtig auch in der deutschen Literatur oder wären eventuelle Kandidaten für den Königsthron nur lächerliche Verkaufsargumente der Massenmedien?

 

Eine unbestrittene Figur wäre für mich eher verdächtig, das Gegenteil aller Nachahmungswürdigkeit. Die besten Autoren waren in der Vergangenheit meist im höchsten Maße umstritten.

 

Würde die Verknüpfung von dichterischer und moralischer Autorität bei uns heute noch Sinn machen? Unsere Gesellschaft ist demokratisch und bis zu einem anything goes ohnehin offen, es fehlt ihr auch ein ideologischer Konsens. Im Zarenreich hingegen war für viele Intellektuelle zumindest die Ablehnung des Zarentums konsensfähig und in Polen wollte kein Denkender Mensch den Kommunismus haben. Da war das Leben mit, unter und gegen die Tyrannei tatsächlich ein moralisches Problem für weite Teile der Bevölkerung, welches sich in der Literatur spiegelte. Konsequente Widerständler unter den Literaten genossen in dieser Situation natürlich einen Bonus.

 

Vielleicht ist das »anything goes« einer offenen Gesellschaft für einen Literaten in der Tat ein Problem. In früheren Jahrhunderten hatte Literatur stets so etwas wie ein »transzendentales Signifikat« (Gott, Wahrheit, Natur, Religion), an welchem man sich abarbeiten konnte. Und im 20. Jahrhundert existierten immerhin noch Signifikate absoluter Negativität (Kriege, Totalitarismus, Holocaust) als bedeutungsvolle Verweisungszentren. Heute gibt es weder das eine noch das andere. Wir leben in der Tat in einer transzendentalen Obdachlosigkeit. Ohne Gegenspieler, ohne Signifikat, ohne Reibungsflächen. Selbst die Verrisse von Marcel Reich-Ranicki fehlen. Wir leben in einem amorphen Niemandsland. In Harold Pinters Worten: »No man`s land … does not move … or change … or grow old … remains … forever … icy … silent.«

 

Bleiben wir bei Russland. Dort hatte man schon im Zarenreich Angst vor Büchern. Unter den roten Zaren hat sich das dann noch gesteigert. Und vielleicht gerade wegen des beständigen Misstrauens waren Bücher dort sehr einflussreich. Doch wie sieht das bei uns aus? Sind deutsche Autoren politisch wichtig?

 

Leider nein.

 

Möchten Sie am Ende einen herausragenden Autor der Gegenwart empfehlen?

 

Es gibt nicht einen, sondern viele: Arnold Stadler, Martin von Arndt, Hans Peter Hoffmann, Simone Adams, Walle Sayer, Klaus F. Schneider …

 

Vielen Dank für Ihre Antworten

 

 

Fragen © Joachim Mols, Juni 2014

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