Preis der LiteraTour Nord 2019 an Joachim Zelter
Laudatio von Alexander Kluy
Hochverehrte Damen, meine Herren, lieber Joachim Zelter,
Sie sehen vor sich ein Sparprogramm. Denn auf einen Preisträger mit Namen »Zelter« Lob und Preis zu singen, dafür bedürfte es nicht nur eines Solisten. Nein! Eigentlich bräuchte man einen ganzen Gesangsverein, ja gleich eine Berliner Sing-Akademie mit Größe, Glanz und Goethe-Gloria. Zelter und Goethe und Schlegel. Nicht Friedrich, sondern Bruder August Wilhelm. Dieser schrieb am 10. Juni des Jahres 1798 nach Weimar: Zelters »Bekanntschaft zu machen, hatte für mich etwas eigenthühmlich anziehendes, weil er wirklich zugleich Maurer und Musiker ist. Seine Reden sind handfest wie Mauern, aber seine Gefühle zart und musikalisch.« Darauf erwiderte Goethe: »Wenn ich irgend jemals neugierig auf die Bekanntschaft eines Individuums war, so bin ichs auf Herrn Zelter. Gerade diese Verbindung zweyer Künste ist so wichtig und ich habe manches über beyde im Sinne, das nur durch den Umgang mit einem solchen Manne entwickelt werden könnte. Das originale seiner Compositionen ist, so viel ich beurtheilen kann, niemals ein Einfall, sondern es ist eine radicale Reproduction der poetischen Intentionen. Grüßen Sie ihn gelegentlich aufs beste. Wie sehr wünsche ich daß er endlich einmal sein Versprechen, uns zu besuchen, realisiren möge.« Eine! Radicale! Reproduction! Und auch noch »der poetischen Intentionen«! Die festgefugt sind. Wenn das vor fast zweihundertfünfundzwanzig Jahren nicht visionär war. Und die heutige Preis-Kür skandalös vorwegnehmend. Zum Glück hielt Zelter das Versprechen, uns zu besuchen – heute. Joachim Zelter ist seit einem Zehntel dieses Zeitraums, seit 22 Jahren, ein staunenswert, ein beneidenswert produktiver Autor. Kaum ein Jahr seit seinem Erstling, sinnigerweise in einem Verlag mit dem sinnigen Namen Ithaka erschienen, in dem kein Roman aus der Feder dieses literarischen Odysseus publiziert wurde. Der bereits sehr schnell kein »Niemand« mehr war. Und wenn kein Roman, dann ein Theaterstück. Und wenn seltsamerweise kein Theaterstück, dann ein Hörspiel. Und dazu noch Preise, etwa als Hausacher Stadtschreiber (dabei ist Hausach so sehr »Stadt« wie Cuxhaven hochalpin). Und wenn keine Preise, dann Lesungen. Lesungen, Lesungen, Lesungen. Als »Vorlesekünstler«. Denn ein Vorlesekünstler ist Joachim Zelter auch. Und nicht zuletzt! Und nach Lese-Auftritten – ich durfte mehrfach Augenzeuge sein! – ein ausdauernder Signateur vor der stets längsten Signier- und Autografenschlange. Sinnhafte Fiktion und Wahrheit war seine Dissertation überschrieben. Eine sprechende Aufreihung: Sinn – Fiktion – Wahrheit. »I describe not men, but manners; not an individual, but a species.« Ich beschreibe nicht Menschen, sondern Sitten, nicht Einzelne, sondern eine Gattung. Auch ein Satz, den Joachim Zelter, der Fast-Dr. habil. in Anglistik, im kolossalen Palast seiner Gedächtniskunst parat hält. Ein Satz des englischen Autors Henry Fielding, der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur erfolgreicher Romancier war, sondern – nein: nicht Maurer – Jurist war er und Londons erster Polizist. Mit den Bow Street Runners organisierte er ab 1749 die erste Ordnungstruppe der englischen Hauptstadt. Dabei war jener, der am tiefsten in die Verbrechensszene hinabsah, sein blinder Bruder. Oh happy paradox! Was ist nun der homo sapiens Zelteriensis? Ein Desperado des Desparaten. Ein Katzengoldschürfer. Ein Nicht-Heros des Sub-Normalen. Ein Untermächtiger. Trippelndes Fußvolk in sehr alltäglichen Riesendramen. Wenn in Anton Tschechows Theaterstück Platonov am Ende der Titelfigur in die Brust geschossen wird, lauten seine letzten Worte: Halt, halt … Wie das? Die allerletzten Worte sind noch profaner: »Er bekommt drei Rubel.« Regieanweisung: Fällt zurück und stirbt. Das wäre für Joachim Zelter schon zu dramatisch und zu schwer. Wie heißt es am Ende von Wiedersehen? Dann hörte Arnold aufmunternde Worte: Das sei ja gar nicht so schlimm gewesen. Und man meinte ihn. Ob nun Arnold, den Lehrer, oder Arnold, den Schüler. Oder beide zusammen. In manchen Momenten sei das sogar regelrecht geistreich gewesen. Während ein anderer bemerkte: Er solle das doch nicht persönlich nehmen, die Pfiffe und die Reaktionen aus dem Publikum. »Nicht persönlich nehmen?« »Ja, nicht persönlich nehmen.« Tiefkomische Hochtragiker sind die Figuren Joachim Zelters. Mechaniker der Verzweiflung mit dem falschen Werkzeugkoffer für die Lebens-Maschine. Untergangs-Buster Keatons, die schreien wollen. Nur leider gibt es im Stummfilm ihrer Existenzen keine Tonspur. In Briefe aus Amerika wird ausgerechnet ein durch und durch Anglophiler in die absolut fremde Fremde geschickt – nach Amerika, in die einstigen Kolonien. An die Yale University, die so gotisch alt aussieht, aber ein Architektur-fake ist. Nach New England, in dem nichts, aber auch gar nichts nach merry old England aussieht. Der glänzend promovierte Anglist muss an der schwer reichen Hochschule, die mitten in einer der ärmsten Städte des Nordostens liegt, einen Kursus geben: Deutsch als Fremdsprache. Dabei ist doch für ihn das Auseinandersetzen mit der Welt bereits eine Fremdsache, eine nahezu extraterrestrische Angelegenheit; und das nicht nur weil es eine ominöse und eminent einschüchternde Genie-Erscheinung in den heiligen Hallen der Hochschule gibt. Eine Substandardwohnung findet unser Hochschul-Helote im höchsten Gebäude der Stadt, dort selbstredend im dunklen Erdgeschoss. Eine offensichtlich Geistesgestörte, die in einem Hof lautstark Name nach Name rezitiert, lässt er, der Deutsche, von der Polizei abholen – und es stellt sich heraus: Sie las laut den Kaddisch, das jüdische Heiligungsgebet, für die Opfer des Holocausts. Diese urkomische Kreuzung aus Don Quijote, einem viel zu lang geratenen Woody Allen und stoneface Buster Keaton ist in dieser Wissensweltsatire stets zur falschen Zeit am falschen Ort. Und am Ende festgenagelt von einem Polizeischeinwerfer. In untertan ist Friederich Ostertag einer, der als Schüler fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn in der Schulbank sitzt und nach Schulstundenende noch fünf Minuten länger sitzen bleibt, der sich während des Unterrichts geradezu ungestüm als Wissender meldet, um gerade so das Manöver des Übersehen Werdens einzuleiten. Es sind die Gebärden eines Ertrinkenden, der Spaziergängern zuruft: »Aber nein. Ich gehe gar nicht unter. Ich winke nur …« Er winkt sich durchs Leben. Ein horribles Internat. Ein Soziologiestudium zugunsten eines Anderen, der von Tuten und Blasen, zu schweigen von Soziologie, nichts weiß. Als dieser – mit Friederichs blendend-abseitiger Promotionsarbeit – Assistent wird, wird er dessen Assistent. Ein AssistentAssistent des eigenen Lebens. Am Ende wird aus dem Ohren-Bläser ein lästiges, ein überflüssiges Subjekt. Das keinen Halt hat, keinen findet, keinen Sinn sein eigen nennt. Der Ohrenzeuge wird vom Golem, den er erschaffen, dem er überhaupt erst Leben eingehaucht hat, er wird von dieser hohlen Kreatur sorglos entsorgt. Neuerlich wird eine alte Stadt, die paradoxerweise im Bodensee liegt, nicht am Wasser, sondern eben im Wasser, wird diese Insel-Stadt mit ansehnlicher Altstadt eine trübselige und tödliche. Kein Wunder vermag den Nachkommen des Erfinders des Brettspiels Fang den Hut aufzufangen. Dafür gelingt in Der Ministerpräsident der Figur Claus Urspring nach einem Unfall geradezu Wundersames. Als baden-württembergischer Ministerpräsident astreines Hochdeutsch zu sprechen, das ist wahrlich ein Wunder! Auch er ist ein Zurechtfinder im Leben, einem ganz neuen, von TeilAmnesie geprägten. PIN-Nummern, Telefonnummern, das Geburtstagsdatum: alles parat. Aber wer ist nur diese Frau, die von ihm so hartnäckig als »ihr Mann« spricht? Es sind herrlich dekuvrierende Szenen des Politalltags, die Zelter hier entwirft. Urspring wird angetrieben vom Referenten Julius März (wieder so ein sprechender Ideen-Name eines Westentaschen-Cäsars!), der sich nicht vorstellen kann, eines zu verlieren: die Schimäre »politische Macht«. Mit Macht muss Urspring wieder machtvoll auftreten, machtvoll schreiten. Bis es ihm gelingt Freiheit zu spüren bei einem Ausbruch. Und dann doch wieder »eingefangen« wird. Und zum von eigenen Illusionen Überforderten wird. Joachim Zelters Hauptthema con vielen variazoni ist ebendies: Was macht ein Mensch, der völlig überfordert ist?
Ja, was macht er? Antwort: Er hat in Zelter-Büchern seinen großen Auftritt. Vor den altbackenen Ausdrücken, zu denen eine verbal sich in Geistesarmut schickende Literaturkritik in ihrer Verzweiflung angesichts des Vokabulariums, des Einfallsreichtums und des Variantenspiels von Joachim Zelter zu greifen pflegt, muss man ja geradezu warnen! Eine Lese-ReiseWarnung aussprechen! Glücklicherweise sei der Autor einer »umfassenden Pointenseligkeit« ausgewichen, hieß es da. Oder: Es handele sich um »pointierte Satire«, es fänden sich »witzige Spitzen«, es seien »bittere Pointen der universellen Negation« im Universitäts-Untergeherroman How are you, Mr Angst zu finden. Dieses herzzerreißend komische Zerr-, also Echt-Bild binnenuniversitärer Zustände wie extra muros im Lande ließ eine der größten Tageszeitungen hierzulande ausgerechnet von einem Literaturprofessor besprechen, der in seinem Leben niemals anderes als ›Universität‹ erlebte. Angesichts des Stalking-Romans Die Lieb-Haberin, der dieses Phänomen prä-massen-elektronisch aufs Tapet hob, floh man dann gänzlich in wolkige Beschreibungen wie »skurril« oder, eine Endbemerkung, die jede weitere Beschäftigung als überflüssig ausruft, »exzentrisch«. Vielleicht tut sich die Kritik – und Kritiker wird man ja, weil man sich für Menschenfreundlicheres einfach nicht eignen will – auch so schwer, weil Joachim Zelter nicht nur ein Poeta Dr. phil. ist, solche gibt es ja nicht gerade wenige, sondern er ist einer der wenigen Poetae doctissime, derer sich die deutsche Literatur der letzten fünfundzwanzig Jahre rühmen kann. Welche Echos finden sich nicht hier! Welche Echokammernreflexe durchzittern die Seiten! Schließlich haben wir es mit jemandem zu tun, der an der Yale University zu Füßen Harold Blooms saß, jenes Literaturdeuters, der den Begriff der »Einflussangst« prägte. Kein Zufall, dass Zelter sich damals vom akademischen Leben ab- und mutig der Einfluss-Literatur zuwandte. Denn was und wer fällt einem nicht alles ein als Zelterologe: William Shakespeare und Thomas Bernhard, Laurence Sterne und der Hausheilige Oscar Wilde (ach, die großartigen Dialoge, die Zelter zu Papier bringt!), Giorgio Manganelli und Bohumil Hrabal, Malcolm Bradburys History Man und Macedonio Fernández’ Museum von Eternas, Letzteres bekanntlich ein Roman, der aus lauter sich überschreibenden Vorworten besteht zu einem gar nicht vorhandenen Haupt-Text. Wenn das Salim Hacopian gewusst hätte … Seine Literaturnovelle Einen Blick werfen benannte Joachim Zelter raffiniert bereits auf dem Cover als – Sie werden es nie erraten –: als »Literaturnovelle«. Dabei ist das Bild, das er darin zeichnet von Literatur im Lande, also vom Geisteszustand eines geistlosen Landes, ein verheerendes. In den seit Erscheinen verstrichenen sechs Jahren sind die Salim Hacopians nur so ins Kraut geschossen. Sie bevölkern die Werbematerialien weitgehend ohne Rat noch Plan agierender Verlagshäuser – große bunt inszenierte Fotos gerade gewachsener, ansehnlicher Menschen und daneben, klein, als irgendwie eingerückte Petitesse, die bitte zu entschuldigen sei, was hoffentlich gewährt werde, ein, ach ja, ein Buch. Welches natürlich von vorne bis hinten garantiert autobiografisch sei. Mittlerweile ist ja dieses PseudoEchtheits-Siegel auch im bisher diesbezüglich unschuldigen Genre von Mord und Totschlag zu finden. »Ein Portugal-Krimi – geschrieben von einer Autorin, die in Portugal lebt!« las ich jüngst. Welche Sensation, welche, ach, welche Fantasiearbeit. Ich warte auf den Historiker, der über die Pest im 13. Jahrhundert arbeitet und notariell beurkunden lässt, er habe Pest und das 13. Jahrhundert hautnah erlebt … Der zeitgemäße Autor, so Joachim Zelter in einem Essai, bei dessen Lektüre man sofort die Kosten beim Zahnarzt überschlägt, muss er doch diese Bemerkungen mit sarkastisch wie dauerhaft zusammengebissenen Zähnen geschrieben haben, der zeitgemäße Autor erweist sich, bevor irgendetwas anderes erwiesen werden muss, zunächst einmal durch einen eindrucksvollen Lebenslauf. Denn: Man schreibt heutzutage Lebensläufe immer mehr wie Romane und Romane zunehmend wie Lebensläufe – bis eines Tages ein Brief von einem renommierten Verlag kommen wird, in dem stehen wird: »Langsam finden wir an Ihrem Lebenslauf durchaus Gefallen. Der Aufbau, die Wendepunkte, die Reisen und das Abenteuer. All das finden wir gut inszeniert. Natürlich muss man an dem einen oder anderen Punkt noch feilen.«
Aber was sind schon biografische Tätigkeiten wie Leichenwäscher in Madras, Rettungsschwimmer in Tahiti, Ziegenmelker in Meppen, Leuchtturmwärterin im Ural, Kindheit in 47 Generalkonsulaten zwischen Canberra und Stromboli verglichen mit, sagen wir, Tübingen. Als mich ein Alteingesessener dieser Stadt vor Jahren durch die Straßen Tübingens führte, machte er mich auf etwas aufmerksam, was man vor lauter Hölderlin-Türmen, Hochschulwahnsinn und Hegelstiften als nichtschwäbischer Fremdling sieht und falsch sieht – die moderate Verstelltheit. Wenn Sie auf einigen Tübinger Altstadtgassen vor einem Haus stehen, werden Sie angetan sein von der bürgerlichen Bescheidenheit der Behausung. Zwar wuchtig, aber gerade einmal zwei Geschosse messend. Schwäbisches Spar-Barock. Bis Sie dann neben das Haus geführt werden und sehen, dass die Straße unterhalb viele Etagen tiefer liegt, viel tiefer als gedacht. Und das Haus ist ein an die Steigung geschmiegtes Quasi-Hochhaus avant la lettre. So ist es auch mit dem Unterbau der so höflichen, weil zivil schmalen Bücher Joachim Zelters beschaffen. Erfasst man erst einmal die Tiefe, schwindelt und schaudert es einen. Und der Schwindel ist ein existenzieller. Und natürlich ambivalent – was sollte Schwindel sonst sein als eben: doppelsinnig, doppelbödig, als eben: Literatur?! Wohl nur allzu verständlich, dass kein regionaler Wettbürobetreiber Einzahlungen auf einen Sieg Zelters bei LiteraTour Nord entgegengenommen haben dürfte. Sie winkten vermutlich gleich nach dem Betrachten des Schutzumschlages von Im Feld ab. Denn darauf zu sehen ist: ein Radfahrer in einem gelben Ganzkörpertrikot! Wenn das keine self-fulfilling prophecy ist! Dieses Buch habe ich geschrieben, um meine berufliche Welt, die Welt der Gedanken und ihrer Geschichte, jener Welt näherzubringen, die mich außerhalb meines Berufs am stärksten fasziniert, der Welt des Sports und der Stadien, schrieb der in Stanford in Kalifornien lehrende Literaturprofessor Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Band Lob des Sports. Er schrieb allerdings als strikter Beobachter, weil als Inhaber von Dauerkarten für Football, Basketball und Eishockey.
Sport hat es traditionell eher schwer in der Literatur. Vor allem in und mit der gegenwärtigen in deutscher Sprache. Und die Literatur umgekehrt mit dem Sport. Wer will schon seinen Ruf eines krumm und bucklig gelesenen Intellektuellen durch die Erscheinung als sehniger gebräunter Muskelmann riskieren. Geht es um die große Zeit des Boxens oder des Tennis, lange genug zurückliegend – nur Hochbetagte wie ich können sich noch halbtägiger Wimbledon-Tournamente zwischen Björn Borg und John McEnroe entsinnen –, genügt es, A. J. Liebling, Norman Mailer, Bill Cardoso zu lesen. Übers Schwimmen finden sich liquide Meditationen aus der Feder von AquaLiebhabern wie Roger Deakin oder Lynn Sherr. Übers Laufen schrieben Günter Herburger und Matthias Politycki, der das allerdings austarierte mit einem Buch über Londoner Bier-Pubs. Und Thomas Pletzinger, der seit Jahren das Romaneschreiben sistiert hat, begleitete ein Jahr lang eine Basketballmannschaft. Wie aber steht es mit dem Radfahren, mit der Freude am Radfahren, die schon der dieser Sportart ob chronischer Rückenschmerzen unverdächtige John F. Kennedy als mit nichts vergleichbar einstufte? Da findet sich Prosa von Tim Krabbé, von Heinrich Böll, von Ugo Riccarelli. Und eben, und zwar ganz an der Tête, dort, wo Tempo von Ausreißern gemacht wird, wo Rouleure taktische Manöver fahren, von Joachim Zelter, dem Cyclomanen, dem Fahrradbesessenen. Und der – ich war Augenzeuge – einmal als Vortragender zu einem 70 Kilometer von seinem Wohnort entfernten Literaturfestival geladen war und mit Rennrad und im Lycra-Dress vorfuhr. (Das Organisationskomitee wollte dies dann auch Autorinnen und Autoren aus New York und Tokyo und Paris nahelegen; zu deren Glück kam es zu keiner Reprise.) Die Hotelrezeption erschreckte Joachim Zelter dann noch mit dem ehrenwerten Anliegen, das wertvolle Bizyklett mit aufs Zimmer nehmen zu wollen. Er schickt in Im Feld den karrieretechnisch verunglückten Ex-Dozenten und Ex-Volksbildner Frank Staiger (wieder: was für eine Namensfindung!) auf einen Christi Himmelfahrt-Radausflug. Die im scheinbar harmlosen Freiburg im Breisgau scheinbar harmlos einsetzt und zur »Tor-Tour« wird, zu einem existenzialistischen Himmelfahrtskommando der physischen wie der linguistischen Sonderklasse. Am Ende des langen, extrem strapaziösen Tages sind exakt dreihundertfünfundvierzig Kilometer und exakt viertausenddreihundertsiebenundsechzig Höhenmeter zurückgelegt. Der Gruppenleiter, besser: der Gruppenantreiber, der herausfordernd unangestrengt auf einem City-Rad unterwegs ist, jagt das Peloton der Hobby- und Amateurfahrer tief ins Elsass hinein und einen Vogesenberg nach dem anderen hinauf, hinunter, hinauf, hinunter. Aber dann ist noch immer nicht alles zu Ende: »Und dann noch die Landauerrampe. Wie ein Damoklesberg über allem. Angstrampe, Schreckensrampe, Monsterrampe.« Sprachlich ausgefuchst, psychologisch röntgentiefscharf, dramaturgisch raffiniert und wie alle Bücher Joachim Zelters mit charmanter Ironie getrüffelt, ist dies jedoch mehr als »nur« ein Roman übers Pedalieren. Vielmehr eine Allegorie über Leben, über Ausloten, über Einfügen. Es ist eine Reflexion über die Zonen der Selbsterkenntnis, über Grenzerfahrung, SelbstEntgrenzung und Autosuggestion, letzteres ganz ohne Auto. Es ist Cyclomanie und Lebenserhellung. Cyclomanie als Lebenserhellung. Anders gesagt: In Klickpedalen ins Helle, ins Freie. Joachim Zelter gehört eindeutig zur Spitze des Pelotons der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wenn er nicht eh alle anderen bereits an der ersten Steigung abhängt. Mit sanfter, aber deutlicher Dezenz. Mit diskretem Zurückzucken angesichts einer medusenhaften Welt, der zur kindlichen Dauererheiterung bunte Wattebällchen auf die Augen gelegt werden. Nicht gerade die optimale Ausgangslage für eine Herz und Sinne erschütternde Zelter-Lektüre. Denn es geht bei ihm umstandslos um Rosenkriege und Verschattungen, um Verzweiflung und titanisch Großes. Und dies in schmalen Bänden. Es geht um Leben und Tod. Um das falsche Rad im richtigen Leben. Um Sinnsucher und Erfüllungsverweigerer. Es geht um le mot juste und la monde injuste, um das richtige Wort in einer ungerechten Welt. Das richtige Wort finden für eine ungerechte Welt. Auch und erst recht das rechte Wort am passenden Platz hören. Denn Joachim Zelter ist ein »phonozentrischer« Autor. Er braucht das Ohr. Er schreibt mit dem Ohr. Und zum Zuhören. Er braucht das Publikum. Und wir, das Publikum, brauchen noch viele, viele Bücher von ihm. In einer Bemerkung schrieb einst Franz Kafka, dass man nach dem Zuschlagen des Buches wieder auf sich selbst gebracht, nach diesem Ausflug und dieser Erholung sich in seinem neu erkannten, neu geschüttelten, einen Augenblick lang von der Ferne aus betrachteten eigenen Wesen wieder wohl fühlt und mit freierem Kopfe zurückbleibt. Kannte er etwa unseren heutigen Preisträger und seine Bücher?