Interview zu untertan

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Der Untertan im neoliberalen Zeitalter

Gespräch mit Sigrid Lehmann

 

 

Ihr neuester Roman scheint eine Neuauflage von Heinrich Manns „Der Untertan“, sozusagen übersetzt ins neoliberale Zeitalter. Der Held, ein Soziologe, erlebt von Kindheit an tragische „Zurichtungsprozesse“ um in der Sprache der Kritischen Soziologie zu bleiben. Schließlich hat er alle Fähigkeiten erworben, sich als die rechte Hand eines korrupten Politikers zu verdingen. Dabei war Friederich, wie Heinrich Manns Diederich, einst ein weiches Kind. Was ist geschehen?

 

Friederich Ostertag ist von Kindheit an mit dem Leben überfordert, mit der Kälte und den Ansprüchen des Elternhauses, später mit dem Leistungsdruck an der Schule. Von Anfang an ist er ein Getriebener und Überforderter. Statt mit Eigensinn oder Verweigerung darauf zu reagieren, geht Friederich Ostertag den Weg totaler Anpassung. Eine Form von Tarnung oder Mimikry, um der Scham zu entgehen, der Scham darüber, dass er eigentlich überfordert ist.

 

Die unmenschliche Behandlung, die Friederich Osterberg zum Duckmäuser und Konformisten entwickeln lässt, wird noch drastischer als bei Heinrich Mann geschildert. Der Vater funktionalisiert ihn als seinen Vorzeigesohn. Besonders grausam ist die Szene im Internat, in der er eine ganze Nacht lang von seinen Mitschülern durchgeprügelt wird. Wie nah sind solche Schilderungen an der Realität?

 

Sehr nah. Ich habe es selbst erlebt. Ich war von der fünften bis zur dreizehnten Klasse in einem Internat.

 

Was hat Sie an Heinrich Manns Untertan fasziniert? Was ist neu an Ihrem Untertan?

 

Heinrich Manns Roman ist ein politischer Roman. In der deutschen Literatur ist das bereits eine Besonderheit. Anders als beispielsweise in England spielen Romane mit gesellschaftspolitischen Themen hierzulande keine so große Rolle. Schon allein deshalb fasziniert mich Manns Roman. Sein Bruder, Thomas Mann, hat das Politische in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ als etwas Geschmackloses Widerwärtiges hingestellt, das dem Verständnis einer romantisch-idealistischen Kultur unvereinbar gegenüberstehen soll. Heinrich Manns Roman ist eine Studie des Autoritarismus und Militarismus im deutschen Kaiserreich. Die oberste gesellschaftliche und normative Instanz in dieser Welt ist der Kaiser, das schlimmste Sakrileg die Majestätsbeleidigung. Was bei Mann der Militarismus und Autoritarismus, das ist in meinem Roman die Ökonomie als oberstes Bewegungsprinzip. Wo im Kaiserreich eine Gesellschaft umfassend militarisiert wurde, da wird sie heute in immer mehr Bereichen ökonomisiert. Fast alle Fragen und Diskurse wandeln sich zu ökonomischen Diskursen. Seit den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wandelt sich die Gesellschaft zunehmend von einer postmaterialistischen Gesellschaft (Ronald Inglehart) wieder zurück in eine materialistische Gesellschaft. Das heißt, die Diskurse bewegen sich weg von Entwürfen eines besseren Lebens oder einer besseren Welt in Diskurse ökonomischer Knappheit und Beschränkung. Immer mehr wird dabei zu einer knappen Ressource oder zu einer ökonomischen Ware: Bildung, Arbeit, ja selbst unsere Jugend als unser „größtes Kapital.“ Und das in einem Land, das eigentlich reicher ist als zu jedem früheren Zeitpunkt. Diesen Wertewandel erzählt mein Roman. Wie wir zu dem geworden sind, was wir heute sind.

 

An der Universität erfährt Friederich sozusagen eine Gegenwelt zu den autoritären Strukturen, denen er vorher ausgesetzt war, er studiert Politologie und Soziologie. Er bleibt aber seinem „untertänigen“ Denken und Fühlen verhaftet. Wie ist es möglich, dass einer wie er nicht nur in der Lage ist, gesellschaftskritische Denker zu verstehen, sondern nach Meinung seiner Professoren auch hervorragend über diese zu reflektieren vermag?

 

Es gibt zahlreiche Menschen, die in einer beflissenen Sprache über sich und die Welt reflektieren können – und dennoch im wirklichen Leben nichts davon umsetzen. Entweder nichts umsetzen können oder nichts davon umsetzen wollen. Peter Sloterdijk hat diese Diskrepanz „aufgeklärtes falsches Bewusstsein“ bezeichnet. Oder als aufgeklärte Verhinderung von Aufklärung. Gerade an der Universität herrscht oft eine Diskrepanz zwischen Denken und Fühlen, zwischen Modell und Wirklichkeit, zwischen kommoden wissenschaftlichen Meinzungen und tieferliegenden Haltung. Ich kenne Soziologen und Politologen, die in den Achtziger Jahren in der Begrifflichkeit der Kritischen Theorie Hausarbeit über Hausarbeit verfasst haben, und die heute bekennende CDU-Wähler und Merkel-Verehrer sind.

 

In der Doktorarbeit, die Friederich für von Conti schreibt, geht es um „Kälte als soziologisches System…Kälte als regulative Entropie… Wie man Menschen in Angst und Schrecken hält… Ihnen die Heizung abdreht.“ Das sei „(h)errschaftsnotwendig, systemnotwendig. Herrschaft gleich Angst und Schrecken und einige Silberstreifen am Horizont.“ Durchschaut Friederich seine eigenen Unterdrückungsmechanismen?

 

Ja, er durchschaut sie, und trotzdem treibt er sie voran, treibt sie sogar immer mehr auf die Spitze, wider besseren Wissens, aus einer diabolischen Boshaftigkeit heraus. Peter Sloterdijk schrieb über diesen Vorgang seine „Kritik der zynischen Vernunft“.

 

Richtig Fahrt nimmt der Roman meiner Meinung nach auf, als Franz Theobald Heinrich Werner Wilhelm von Conti die Szene betritt. Ohne je selbst was geschrieben zu haben und scheinbar ohne selbst Bücher zu lesen schafft er es dank Diederichs devoter Hilfe zu Doktorehren: eine unübersehbare Parallele zum Freiherr von Guttenberg. Haben Sie recherchiert, ob dieser auch wie von Conti ein solches Benehmen an der Uni am Tag gelegt hat?

 

Nein. Es wäre auch ein Fehler, den Roman allzu sehr auf mögliche Parallelen zum Fall Guttenberg zu verpflichten. Das würde den Roman verengen, ihm viel von seinem Impetus nehmen. Viel wichtiger als der Fall Guttenberg war mir beim Schreiben des Romans das Thema Verausgabung und Ausbeutung. Ich glaube diese beiden Vorgänge sind eine Grunderfahrung immer mehr Menschen in unserer Zeit. Sie verausgaben sich, und sie werden ausgebeutet. Genau das geschieht mit meinem Helden. Indem er für einen anderen nicht nur eine Doktorarbeit schreibt, sondern sich in jeder Hinsicht aufopfert, ihm zuarbeitet. Je mehr er arbeitet, umso weniger wird er selbst und umso mächtiger und umfassender wird der Erfolg des anderen.

 

Während „der Tunnelfahrt“ des Schreibens an der Doktorarbeit erlebt Friederich „nichts als Überfülle und Leere: die Leere eigener Gedanken und die Überfülle an Büchern und immer weiteren Büchern, die es noch zu lesen galt. Je schlimmer diese Überfülle, desto deutlicher wurde seine Leere.“ Klingt in solchen Passagen eine generelle Kritik am akademischen Leben an? Sie selbst haben ja als Dozent für Anglistik in Yale und in Tübingen doziert, bevor Sie sich ganz der Schriftstellerei gewidmet haben …

 

Es ist sicher auch eine Kritik an der akademischen Tätigkeit, an ihrer Behäbigkeit und Schwerfälligkeit. Der ständige Passiv sich immer weiter verschachtelnder Sätze. Die hermetische Abgeschottetheit des wissenschaftlichen Schreibens. Auch der Umstand, dass man jahrelang an einer Doktorarbeit schreibt, die kaum ein Mensch liest, geschweige denn versteht. Das Nicht-Verstehen-Können als Ausweis höchster Wissenschaftlichkeit. Wenn ich heute meine eigene Doktorarbeit lese, dann gibt es Passagen, die ich schlichtweg nicht mehr verstehe. Schon der Titel der Arbeit ist eine kleine Doktorarbeit für sich. Er ist so lang, ich könnte ihn kaum aufsagen. Das wissenschaftliche Arbeiten erlebte ich als eine Form völliger Vereinsamung, Vereinseitigung und Eindimensionalität. Marcuses „Der eindimensionale Mensch“, er finde sich in Reinform an der Universität.

 

Der Roman ist aus einer tricky Perspektive geschrieben: Aus der des Ghostwriters der Doktorarbeit eines Politikers. Durch Zeitdruck erfindet Friederich Osterberg absurde Fußnoten, die er später ändern will. Er vergisst das, was ihm in Laufe seiner Karriere als von Contis engster Mitarbeiter lange Zeit beunruhigt. Nach seiner Entlassung wünscht er sich allerdings die Entlarvung des wissenschaftlichen Pfusches?

 

Zunächst verfasst Friederich diese Fußnoten um Seiten zu füllen, auch aus ästhetischen Gründen, weil jede beliebige Seite einer Doktorarbeit eine bestimmte Anzahl von Fußnoten haben sollte. Schon allein um optisch auf den ersten Blick so etwas wie Wissenschaftlichkeit zu verbürgen. Mit der Zeit werden die Fußnoten immer absurder und frivoler. Er schreibt in diese Fußnoten alles, was er sieht oder denkt oder empfindet. Die Fußnoten werden zunehmend zu einem Ventil eines Innersten, oder psychologisch gewendet: seines Unbewussten, das sich in dem Souterrain einer kleingedruckten Fußnotenwelt behaupten darf. Insofern sind gerade die Fußnoten eine Form von Authentizität und Wahrheit.

 

Ausgerechnet dieser Baron von Conti, der selbst mit Geld um sich schmeißt und für sich arbeiten lässt, gibt als Politiker Parolen zu Sparzwang und zur Hinnahme der sich verschlechternden Lebensbedingungen aus. Wie erklären Sie sich, dass die Mehrheit der Bevölkerung, auch in der Realität sich von einem Typ Politiker wie von Guttenberg blenden lässt?

 

Wir leben in einer meritokratschen Gesellschaft, die sich durch die Idee der Leistung differenziert. Menschen können sich etwas leisten, weil sie etwas geleistet haben. Und umgekehrt. So wird es behauptet, im Sinne eines stummen Wissens. Leistung und Erfolg werden dabei in einen pseudokausalen Zusammenhang gebracht. Genauso wie Misserfolg als Ausdruck von Fehlleistung oder Nicht-Leistung. Nun gibt es aber Menschen, die sehr viel leisten, ohne damit je einen Erfolg zu haben, und es gibt Menschen, die von Erfolg zu Erfolg eilen, ohne etwas zu leisten. Genau das zeigt der Roman: die völlige Wahllosigkeit von Leistung und Erfolg. Beides hat nichts mehr miteinander zu tun.

 

Witzig, wenn auch makaber, sind Contis „Sprachpläne“: Gegen eine gewaltige Summe an Geld geht die gesamte deutsche Sprache in die Hände einer Rechte- und Verwertungsgesellschaft. Um sich weiterhin noch in groben Zügen verständigen zu können gibt es Notwörter und Sprachstummel einer letzten freiverfügbaren Sprache, der „Free Language“. Wie nah sind wir an solchen Szenarien?

 

Ich fürchte allzu nah. Es gibt ja kaum noch etwas, das angesichts der zunehmenden ökonomischen Verwertungslogik unserer Zeit vor einem Zugriff noch sicher ist. Kinder, Jugend, Bildung – all wird ja bereits als Rohstoff oder Kapital gedacht. Warum sollte da die deutsche Sprache eine Ausnahme sein.

 

Im Roman gibt es „Den eindimensionalen Menschen“ von Herbert Marcuse, den Friederich in seiner Studienzeit gelesen hat, nicht mehr, ist er vergriffen und wird auch nicht mehr neu aufgelegt. Wussten Sie, dass nicht nur an Universitäten die Kritische Theorie wieder im Kommen ist?

 

Vor Kurzem sprach ich mit einem Soziologen. Sehr versiert, sehr belesen, Verfasser zahlreicher Studien zu den gesellschaftlichen Problemlagen unserer Zeit. Als ich den Namen Marcuse nannte, da geriet er ins Stocken. Als war so als hätte ich Tacitus oder Ovid erwähnt. Namen von einem anderen Stern.

 

In Ihrem Roman geht es wieder mal, nach „Schule der Arbeitslosen“ und „Der Ministerpräsident“, der es letztes Jahr sogar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, um die Verlogenheit des Politikbetriebes, den Arbeits- und den Sparzwang. Von Conti fliegt von einem Land ins andere, um Sparprogramme zu entwickeln. „Die Welt ein Sparprogramm“. Die hohlen Sprachfloskeln der Politiker werden wieder einmal brillant ad absurdum geführt. Wie kommen Sie zu diesen Sprachspielen?

 

Man muss Politiker nur wenige Minuten im Radio hören, oder im Fernsehen sehen, dann ereignet sich sie Absurdität der Sprache wie von selbst.

 

Nicht nur zu allem bereit, sondern auch noch gerne. Friederich nennt die jungen Bewerberinnen die Generation gerne. Als Personalchef in von Contis Diensten nutzt er seine Machtposition gegenüber den jungen Frauen skrupellos aus, von Abendessen „bis in seine Wohnung“. Bleibt jüngeren nichts anderes übrig, als „gerne“ mitzumachen bei dem Schacher um immer weniger Arbeitsplätze?

 

Ich weiß nicht, ob ihnen nichts anderes übrig bliebt, doch scheint mir dieses Wort, das Wort gerne, das an jedem Bankschalter, in jeder Cappuccino-Bar gegenüber Kunden oder Vorgesetzten gesprochen wird, scheint mir dieses Wort wie ein Emblem einer neuen Generation in einer neuen Zeit. Es ist die sprachliche Essenz eines neuen Gesellschaftstyps und Sozialcharakters, den es in der angelsächsischen Welt schon lange gibt: das positive Denken als neuer Gesellschaftsvertrag. Oder auch Gesellschaftsdoktrin. Sei positiv! Denk positiv! Empfinde positiv! Wehe dem, der es wagen würde, zu leiden und das auch noch zu zeigen oder auszusprechen.

 

Im Innern sehnt sich Friederich nach nichts mehr als nach einer Umarmung. Er fühlt sich aber zu minderwertig, sich um die Frauen, die er wirklich will, zu bemühen. Was mag in dem Brief, den Silvia zu seiner Beerdigung geschrieben hat und der mit „Lieber Friederich…“ beginnt, weiter geschrieben stehen?

 

Das muss jeder Leser für sich entscheiden.

 

Juni 2012

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